Der Horstmarer Paulus-Pokal

Der Horstmarer Paulus-Pokal, bisweilen kurz auch als "Paulus-Pokal" oder als "Horstmarer Napf" genannt, wurde 1651 von den Ständen des Amtes Horstmar dem im Jahre 1650 zum Bischof von Münster gewählten Schatzmeister des Domkapitels Christoph Bernhard von Galen geschenkt. Fürstbischof Christoph Bernhard vermachte diesen Pokal in seinem Testament vom 20. April 1678 seinen Nachfolgern auf dem Münsterschen Bischofsstuhl.

Die häufige Bezeichnung "Napf" ist vulgär, wie der Fürstbischof selbst in seinem Testament vermerkt: "Poculum Horstmariense, vulgo ‚Horstmarer Napp'. Heute dient der Pokal dem Großen Kaland beim Jahresfest für Weinspende: Am Montag nach Allerseelentage versammelt sich die Fraternität im Hohen Dom zur Vesper für die verstorbenen Mitglieder des großen Kalands. Am darauf folgenden Tag wird gemeinsam die Votivmesse von der Allerheiligsten Dreifaltigkeit für die lebenden und verstorbenen Mitglieder der Konfraternität gefeiert; darauf folgt das gemeinschaftliche Festmahl mit Weinspende für die neu aufgenommenen Kalandbrüder.Die Vorgeschichte, der Gebrauch und besonders das spätere Schicksal dieses Pokals hat die Geschichtsforschung eingehend beschäftigt.

"Zwei alte Gebräuche"

Der beste Chronist der Kaland-Bruderschaft, Richard Stapper, fasste seine Nachforschungen 1929 über den Horstmarer Pokal wie folgt zusammen: Es "seien noch zwei alte Gebräuche erwähnt, die sich bis heute beim Festmahl erhalten haben. Zunächst pflegte vor Beginn der Mahlzeit zum Tischgebet eine Antiphon zu Ehren des hl. Paulus, des Patrons der Domkirche, in feierlicher, altehrwürdiger Melodie vorgetragen zu werden… Nach Schluss des Festmahls wird sodann den neu aufgenommenen Kalandbrüdern ein Trunk Weines aus einem alten silbernen Pokal gereicht, den man Paulus-Napf nennt.

Es gehörte nämlich, wie noch unlängst Museumsdirektor Prof. Dr. M. Geisberg in einem Vortrag im Westfälischen Provinzialverein für Wissenschaft und Kunst ausführte, ein silberner Becher dieses Namens, geschmückt mit Darstellungen aus dem Leben des hl. Paulus, ein Geschenk des Bischofs Werner (1132-1151), zu den wertvollsten Stücken des ehemaligen Domschatzes. Mit diesem Becher bewegte sich am Tage vor Weihnachten morgens um 10 Uhr ab ein Zug von Domangestellten um die Kathedrale, und jeder "Arme", der an ihn herantrat, sowie jeder Bewohner der Domkurien, sei er Domherr oder Domvikar oder Gast eines Domherrn, bekam einen Trunk Wein zu kosten.

Da das ausartete und sich zuweilen bis gegen 8 oder 9 Uhr abends hinzog, wurde der Brauch 1574 aufgehoben und in eine Almosenspende an die Armen der Stadt und eine Weinspende für die Domkapitulare umgewandelt. Indessen schienen die Missbräuche beim Darreichen des Weins erst in der Zeit des 16. Jahrhunderts hinzugekommen zu sein. Denn die Ordnung des Domgottesdienstes vom Jahre 1489 (II. Domordinarius) erwähnt noch nichts davon.

"... mit Wein gefüllt"

Sie kennt allein die Sitte, dass nach Schluss der Vesper am Weihnachtsabend, nachdem ein Priester mit Weihwasser, begleitet von einigen Klerikern, durch die Kurien der Domherren gegangen und sie unter dem Gesang des Weihnachtshymnus A solis ortus cardine eingesegnet habe, einige Domangestellte den Paulusnapf mit Wein durch die Kurien der Domherren trügen. Letzteres geschehe, während man die Komplet singe: "Ut tune redimus ad illud (sc. completorium) cantandum et interim ciphus beati Pauli (am Rand steht: S. Paulusnapp) defertur per domos dominorum cum vino".

Am Weihnachtsfest selbst wurde der Paulusnapf, mit Wein gefüllt, zur Festtafel geschickt, die an diesem Tage der Domdechant zu halten pflegte. Der gleiche Becher diente als Tafelschmuck und Trinkgefäß beim Großen Kaland. Leider ist der kunstvolle alte Paulus-Napf im Jahre 1806 mit dem ganzen Silberschatz des münsterischen Doms auf Befehl der preußischen Regierung nach Magdeburg gebracht, dort von den Franzosen erbeutet und in der Münze zu Paris eingeschmolzen worden. An seine Stelle war vermutlich schon einige Zeit vorher beim Kaland ein anderer silberner Pokal getreten, den das Amt Horstmar im Jahre 1651 dem Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen verehrt hatte.

Während der alte Paulus-Napf verhältnismäßig leicht war (er wird im Inventar bei der Überführung des Silberschatzes nach Magdeburg als "ein Becher von vergoldetem Silber, genannt Terrine des hl. Paulus… Gewicht 2 Pfund 15 Loth" bezeichnet), ist das jüngere Trinkgefäß des Kalands ein mächtiger Pokal in Kugelgestalt, auf dessen Außenflächen die Landkarte des alten Fürstbistums Münster eingraviert ist. (Gewicht 12 2/5 Pfund).

Beutestück der Franzosen

Auch der neue Napf wurde in der französischen Zeit von einem der Gouverneure Münsters beschlagnahmt und als Beutestück nach Frankreich entführt. Feldmarschall Blücher, der ihn wohl als Gast bei einer Kalandfeier kennen gelernt hatte, bemühte sich beim Friedensschluss vergebens, ihn für Münster wiederzuerlangen. Erst einem Mitglied der gräflichen Familie von Galen, dem damaligen Erbkämmerer, soll es gelungen sein, ihn in Paris am 20. September 1815 aufzufinden.

Der preußische Staatsminister von Altenstein setzte seine Rückgabe durch. Nachdem dieser neue Paulus-Napf beim Friedensfest am 18. Januar 1816 zu Münster als Siegestrophäe gezeigt worden war, wurde er dem Domkapitel wieder zugestellt, das ihn alljährlich dem Großen Kaland zu seiner Festfeier überlässt". So weit die Ausführungen von Richard Stapper.

Die abwechselnde Benutzung der Begriffe "Napf" und "Becher" ist irritierend. Gleich neige ich dazu, an einen großen "Weinbehälter" (Napf) und einen kleinen "Becher" als Trinkgefäß zu denken. Dies betrifft wohl den alten, verloren gegangenen "Paulusnapf". Anders beim neuen "Napf": hier ist die Singularform ‚unzureichend', da im Gebrauch es sich um zwei gleichwertige, halbkugelförmige Näpfe/Pokale handelt.

Ein Becher?

Waren beide Gefäßhälften gleichermaßen im Gebrauch zur Weinspende? Das Gewicht des "alten" Napfes (12. Jahrhundert) deutet auf einen Becher. Dies erinnert mich gleichzeitig an einen weiteren, in der Domkammer erhaltenen Trinkpokal, einen schmalen, hohen Deckelpokal, auf seinem Deckel mit der Statuette des hl. Paulus, der aus der Werkstatt des 1655 gestorbenen Goldschmiedes Michael von Büren I stammt, der vielleicht früher ähnlich benutzt wurde (Domkammer: Inv.-Nr. U. 192). Ob überhaupt und wann der neue Pokal von 1651 an die Stelle des alten getreten ist, ist nicht bekannt. Auch die Vorstellung, dass ein Gefäß aus dem 12. Jahrhundert über mehrere Jahrhunderte hindurch in Gebrauch blieb, scheint mir unwahrscheinlich zu sein.

Die Nachricht, dass der Horstmarer Paulus-Pokal 1870 bei der Bischofswahl als Wahlurne gedient hat, klingt fast wie ein Traditionsbruch. Lange Zeit blieb es unbestimmt, wo und in welcher Werkstatt diese Goldschmiedearbeit entstanden ist? Erst Kurt Fischer ist es gelungen, den Horstmarer Pokal dem Coesfelder Goldschmied Johann Meiners zuzuschreiben:

"Neuerdings kann dem Johann Meiners, wenn auch nicht ganz ohne Zweifel, ein sehr bedeutendes und bekanntes Kunstwerk zugeschrieben werden: der "Horstmarer Napf" des Domes zu Münster. Es handelt sich um ein Geschenk der Stände des damaligen Amtes Horstmar an den am 14. November 1650 zum Bischof gewählten Dom-Thesaurar Christoph Bernhard von Galen; die Inschrift nennt das Jahr 1651.

Coesfelder Ochsenkopf

Unter dem Fuß des Napfes findet sich das Coesfelder Beschauzeichen, der Ochsenkopf, daneben das Meisterzeichen "M": Max Geisbergs Vermutung, es handele sich um ein Beschauzeichen von Tournai, kann ich nicht teilen; der "Ochsenkopf" ist eindeutig zu erkennen. Das Beschauzeichen von Tournai stellt einen dreiarmigen Kerzenleuchter dar mit zwei horizontalen starken Balken. Bei verwischten Zeichen können die beiden horizontalen Querriemen des Zaumes des Coesfelder Wappentieres mit dem Balken von Tournai verwechselt werden, zumal Geisberg das Coesfelder Beschauzeichen noch nicht kannte. Zudem ist nicht anzunehmen, dass ein Geschenk für den neuen Landesherrn, noch dazu mit gravierten Darstellungen der Orte des Ober- und Niederstifts Münster, im fernen Ausland bestellt wurde, obgleich es in Coesfeld, der Prinzipalstadt des Amtes Horstmar, tüchtige Goldschmiede gab.

Berechtigte Bedenken gegen die Zuweisung an Meister Johann Meiners aus Coesfeld beruhen lediglich auf dem Umstand, dass er bei seinen anderen Arbeiten das Meisterzeichen "J M" und nicht "M" verwendet, und dass der bei seinen Arbeiten als Beschauzeichen verwandte "Ochsenkopf" eine etwas breitere Form hat, wie beim Varlarer Budberg-Ziborium festzustellen ist. Nun ist aber festzustellen, dass die Coesfelder Goldschmiede-Gilde am 5. Januar 1652 ihre Rolle und Ordnung erhielt. Der "Horstmarer Napf" stammt aus dem Vorjahr (1651), das Budberg-Ziborium (1664) aus der Zeit nach der Errichtung der Gilde. Es ist durchaus möglich, dass infolge der Neuorganisation der Gilde auch die Form der städtischen Beschauzeichen sich änderte.

Ohnehin gibt es das Coesfelder Beschauzeichen in verschiedenen Fassungen. Die Arbeiten von Samuel Kasten, der noch zu Zeiten Johann Meiners in Coesfeld tätig war, zeigen ein paar andere Beschauzeichen. Die Gildeordnung verlangte die Zeichnung einer Coesfelder Goldschmiedearbeit mit dem "Stadt-Wappen". Es ist möglich, dass der jeweilige Gildemeister ein eigenes Beschauzeichen führte und nicht das seines Amtsvorgängers übernahm.

Meister Johann Meiners

Schwerer wiegt der Einwand, dass der "Horstmarer Napf" als Meisterzeichen nur ein "M", nicht das von Johann Meiners 1664 verwandte "J M" zeigt. Auch dieser Wechsel könnte aber mit der Errichtung der Gilde 1652 zusammenhängen; die Benutzung eines unveränderlichen Meisterzeichens war nicht vorgeschrieben.

Geht man davon aus, dass es sich beim "Horstmarer Napf" um eine Coesfelder Arbeit handelt, dann muss sein Meister Johann Meiners gewesen sein. Außer ihm gab es 1651 in Coesfeld keinen Goldschmied, dessen Namen mit einem "M" begann.

Dies beweist das Gildebuch, das die 1652 hier lebenden Goldschmiede aufführt. Johanns Vater, Melchior Meiners, war vor 1650 gestorben, sein Sohn, Melchior (II) Meiners, wird erst 1662 geboren. Ich möchte also Johann Meiners mit großer Wahrscheinlichkeit als den Goldschmied des "Horstmarer Napfes" bezeichnen". (K. Fischer) - Dieser Zuschreibung gehört meine uneingeschränkte Zustimmung.

Schaugefäß und Tafelschmuck

Die ursprüngliche Bestimmung dieses Doppelpokals und sein Gebrauch zwischen 1651 und 1801 ist letzten Endes bis heute ungeklärt geblieben. Dass dieser Pokal als Schaugefäß beziehungsweise als Tafelschmuck gedient hat, liegt auf der Hand. Dafür sprechen die Inschriften, die Gravierungen und der Figurenschmuck des Gefäßes. Des Öfteren wird er immer wieder als "Trinkgefäß" bezeichnet. Trinkgefäß war er in keinem Falle: das Schraubgewinde am Gefäßrand der beiden Schalen spricht eindeutig dagegen.

Die Vermutung, dass er ursprünglich in der Osterliturgie für Hand- und Fußwaschung - d.h. zur rituellen Reinigung - benutzt wurde, bleibt weiterhin eine Vermutung. Allein die Größe dieses Doppelpokals und die vergleichbaren Gefäßformen auf Darstellungen der Fußwaschung (Joh. 13,1-15) vom 14. bis zum 18. Jahrhundert weisen in diese Richtung. Umso eindeutiger spricht die Widmungsinschrift des Pokals mit dem Wunsch "Glück und Frieden", die auf den politischen Hintergrund der nahen Vergangenheit hinweist und an den jungen "Westfälischen Frieden" erinnert.

Text: Géza Jászai
Fotos: Michael Bönte, Kirche+Leben
13.04.2007