Das religiöse Leben der Germanen

Von einer einheitlichen germanischen Religion kann kaum gesprochen werden. Zwar gab es verbindende Elemente, die überregionale Bedeutung hatten. Das religiöse Leben setzte sich aber wohl in Abhängigkeit von Regional- und Stammensentwicklungen zu unterschiedlichen Mischkulturen zusammen. Zudem gab es zeitliche Entwicklungen. Gerade im religiösen Bereich liegen kaum unverfälschte archäologische Aussagen vor. Deshalb müssen die Aussagen für diesen Bereich in einem Gemisch von Quellen aus anderen Kulturbereichen, späteren Aufzeichnungen und wenigen archäologischen Zuordnungen gefunden werden.

Als sicher gilt, dass es drei zentrale Gottheiten gab. In einem im Münsterland genutzten christlichen Taufgelöbnis hieß es "…ich entsage allem Teufelswerk und -wort, Donar und Wodan und Saxnot und all den Unholden, die ihre Genossen sind". In Anlehnung an skandinavische Gottheiten, über die mehr bekannt ist, wird Wodan als Kriegs- und Siegesgott interpretiert, Donar als jähzorniger "Donnergott" und Saxnot als Stammesgott.

Der Glaube galt einer "übermenschlichen Welt mit Gottheiten wie Schutzgeistern und Ahnen", schreibt der Kirchenhistoriker Professor Arnold Angenendt in seinem Buch "Liudger – Missionar, Abt, Bischof im frühen Mittelalter". Kultplätze, Kultfeste und Opferkult gehörten zum religiösen Leben. Dem Wodan dürften auch Menschen geopfert worden sein. Er propagierte Krieg und Fehde und "stachelte Freunde und Verwandte gegeneinander auf". Die Funde zweier Opferplätze aus dem 4. und 5. Jahrhundert in Dänemark bezeugen ein Kriegsopfer mehrerer hundert Krieger.

Große religiöse Bedeutung der "Irminsul"

Einer zentralen Kultstätte der Sachsen gilt ein besonderes wissenschaftliches Augenmerk: Die "Irminsul", eine "allgewaltige Säule", deren Standort in der Umgebung von Paderborn vermutet wird. "Die große religiöse Bedeutung der 'Irminsul' ist sicher", sagt der münstersche Historiker und Archäologe Stephan Winkler, der für die Ausstellung "Liudger ein Missionar wird Bischof" die Zerstörung des Heiligtums durch Karl den Großen recherchierte. Die heftige Reaktion der sächsischen Stämme auf diese Zerstörung im Jahr 772 sei ein Beleg dafür: "Es war der Auftakt der Sachsenkriege, die sich bis ins Jahr 804 hinzogen."

Zudem erzähle die Irminsul viel über die damaligen Glaubensvorstellungen, sagt Winkler: "Das Himmelsgewölbe drehte sich in der Vorstellung der Germanen um eine imaginäre Achse, die durch den Nordstern ging." Auf der anderen Seite der "Erdplatte" wurde das Gegenstück vermutet. "Damit ihnen der Himmel nicht auf den Kopf fiel, musste die Achse fixiert sein." Die damalige Vermutung gehe dahin, dass sie deshalb auf der Irminsul auflag.

Welttragende Achse

Eine Darstellung des Kreuzabnahmereliefs aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts an den Externsteinen im Kreis Lippe könne diese Annahme belegen: Der Heilige Nikodemus steht auf einer Art geknickten Palme zum Zeichen des Sieges über die heidnische Religion: "Aufgerichtet könnte sie die Irminsul symbolisieren, in der Gabelung könnte in den Augen der Germanen die welttragende Achse gelegen haben."

Informationen über den religiösen Alltag entnehmen die Forscher in erster Linie Schriften der Missionare über die "heidnischen Bräuche" der Germanen. In einem Verzeichnis über die den neu Getauften noch auszutreibenden Rituale aus der Zeit um 800, dem "Indulcus superstitionum et paganiarum", kann man 30 verschiedene Punkte finden, die der heidnischen Religion zugeordnet werden. Demnach gab es Dämonen-, Seelen-, Hexen- und Zauberglauben. Los- und Wahrsagebräuche, magische Rituale, Amulette und Zaubersprüche sind weitere Anzeichen einer schamanistischen Ausrichtung der germanischen Religion.

Text: Michael Bönte, Kirche+Leben
29.03.2005