Lichtgestalt in einer schweren Zeit

Als Liudger in der Nacht des Passionssonntags 809 in Billerbeck starb, hatte er zwar nur vier Jahre als Bischof gewirkt, doch als Missionar war er viele Jahre im Land der Friesen und Sachsen erfolgreich unterwegs, um die Frohe Botschaft zu verkünden. Den Mönchen des von ihm gegründeten Klosters in Werden ist es zu verdanken, dass vieles von seinem Leben der Nachwelt überliefert wurde – auch als schöne Legenden.

"Lieber Liudger, Christi Gnade schütze dich! Lebe als Lichtsäule deines Friesenvolkes, du Priester, gepriesen am Westgestade der Welt ..." Mit ergreifenden Worten dichtete der Schotte Joseph diese Verse, als  sein ehemaliger Mitschüler Liudger, den er an der Domschule der alten Bischofsstadt in York beim berühmten Gelehrten Alkuin kennen gelernt hatte, im Jahr 777 in Köln die Priesterweihe erhalten hatte.

Schon zu seinen Lebzeiten wurde Liudger offensichtlich geschätzt und verehrt. Seine rege Missionstätigkeit durch das Land der Friesen und Sachsen machte ihn weithin bekannt. Er gründete Kirchen und das Benediktinerkloster Werden, förderte die geistliche Ausbildung und wanderte durch sein Sprengel, um mit den Menschen vor Ort regelmäßig Gottesdienst zu feiern – selbst noch in seinen letzten Jahren, als er durch sein rastloses Wirken krank und schwach geworden war.

Die letzte "geistliche Pilgerstrecke" seines Lebens unternahm Liudger am frühen Morgen des 25. März 809, nachdem er in Coesfeld die heilige Messe gefeiert hatte. Über den Coesfelder Berg und durch die Bauerschaften Gerleve und Alstätte zog er nach Billerbeck, um auch dort noch einen Gottesdienst zu feiern. In der folgenden Nacht, am 26. März, starb er im Kreis seiner Begleiter. Es wird erzählt, dass seine Schwester Heriburg und sein Neffe (und späterer Nachfolger als Bischof) Gerfrid es nicht rechtzeitig schafften, ans Sterbebett Liudgers zu kommen. Den Tod habe aber der Himmel bestätigt, denn vor ihrem Eintreffen in Billerbeck sahen sie "ein großes Licht wie Feuer in die Höhe steigen"; es sei genau die Todesstunde gewesen: "Der eifrige Hüter und Liebhaber des wahren Lichtes wanderte zum Herrn."

Lebensbild erhalten

Jahrzehnte nach dem Tod des Glaubensboten und ersten Bischofs von Münster drängten die Mönche von Werden ihren Abt Altfrid (+849), der in der Nachfolge Liudgers als dritter Bischof in Münster wirkte, die Lebensgeschichte ihres viel verehrten Klostergründers aufzuschreiben. Sie befürchteten, dass die Erinnerungen an ihr Vorbild verblassen würden und vielleicht durch Sagen und Legenden nach und nach überdeckt werden könnten.

So diktierte Bischof Altfrid die so genannte Vita I, die erste Lebensbeschreibung. Altfrid, ein entfernter Verwandter Liudgers, hat seinen Amtsvorgänger zwar nicht persönlich gekannt – was er in seinen Schriften sehr bedauerte –, doch er berief sich auf nahe Verwandte und Vertraute Liudgers: Bischof Hildegrim (Liudgers Bruder), der Neffe Gerfrid, Liudgers Schwester Heriburg und die Priester Alubert, Ating und Thiathild.

Mit schlichten und leicht verständlichen Worten schilderte er den Lebenslauf des Missionars – von der familiären Herkunft, den Studienjahren in Utrecht und York, seiner Missionstätigkeit in Friesland, von den Reisen nach Rom und Montecassino, von der durch Karl den Großen betrauten westsächsischen Mission, der Klostergründung 799 in Werden, der Einsetzung als Bischof und seinem Tod 809 in Billerbeck sowie der Überführung des Leichnams nach Werden.

Verständlich ist, dass Altfrid der Schilderung über Abstammung und Ausbildung Liudgers viel Raum überlässt und nicht mit anerkennenden und überschwänglichen Phrasen spart, schreibt er doch über ein Mitglied seiner Familie. Dennoch schließt er die Rückschläge, die Liudger durchstehen musste, nicht aus: Zerstörungen von Kirchen, Vertreibung, Flucht, heidnische Überfälle ...

Die Erzählungen sollten markante Schlaglichter auf Liudger werfen, der mit Leib und Seele ein wandernder Glaubensverkünder war, und somit die Adressaten und Leser der Vita – die Mönche in Werden – zum Nacheifern in vorbildlicher Lebensführung anregen.

Einige Jahre später entstanden die Vita II und die Vita III, Bearbeitungen der ersten. Die zweite Lebensbeschreibung wurde nach 850 verfasst. Sie geriet zwar umfangreicher als die erste, hatte aber auch schon viel Sagenhaftes und Ausschmückendes. In der Vita III, die nach 864 von den Werdener Mönchen zur Erbauung verfasst wurde, überwog bereits die Legende über den Heiligen.

Die Werdener Mönche waren es dann schließlich auch, die die Fassung der "Vita secunda" Ende des elften Jahrhunderts als eine Prachthandschrift ausstatteten. Diese "Vita sancti Liudgeri" ist die einzige bebilderte Lebensbeschreibung des heiligen Liudger, und sie zählt zu den ältesten erhaltenen Heiligenviten überhaupt.

Als überaus bedeutendes Dokument mittelalterlicher Geschichte, Kultur und Religion schildert sie eindrucksvoll das beispielhafte Leben und die Wunder des ersten Bischofs von Münster. Bildaufbau, Pathos der Figuren, Farbgebung und Ausgestaltung mancher Details weisen den Codex in die Tradition der spätottonischen Buchmalerei. Er enthält 23 Miniaturen auf Gold- und Silbergrund mit Szenen aus dem Leben Liudgers.

Das Original der Handschrift befand sich bis zur Säkularisation 1803 im Besitz des Werdener Konvents, gelangte dann an die Paulinische Bibliothek in Münster und schließlich durch Verkauf im Jahr 1823 an die Königliche Bibliothek zu Berlin, heute Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. 1993 erschien eine vollständig farbige Faksimile-Ausgabe dieser "Vita secunda", die nun auch einem größeren Kreis interessierter Liudger-Freunde den Blick auf diese wertvolle Handschrift ermöglichte.

Legendäre Wundertaten

Wie stark die Münsterländer "ihren" heiligen Liudger verehrten, geht auch aus manchen Sagen und Legenden hervor, die sich um den Heiligen ranken. Die ältesten und bekanntesten sind die Geschichten von den Gänsen.

So wird bereits im zwölften Jahrhundert erzählt, dass auf dem Welderhof bei Neuss, einem Fronhof der Abtei Werden, ein Bauer dem Bischof klagte, dass die Wildgänse im Frühjahr auf seinen Feldern die neue Saat fressen würden und somit eine spätere Ernte unmöglich machten. Daraufhin befahl der Bischof den Gänsen, brav in einen Stall zu gehen. Die Felder wurden verschont, der Bauer konnte seine Ernte einfahren. Der Volksmund hat den Schauplatz der Sage später auch nach Billerbeck und Elte verlegt.

Manche nehmen an, dass die Legende der Anlass wurde, dem Heiligen in der Kunst als Attribut Gänse zu geben. "Diese Annahme erscheint jedoch unwahrscheinlich", meint der Historiker Alois Schröer. "Mit besserem Grund deuten andere die Vögel als Trappen (Kranichvögel), die Liudger als Begründer des Ackerbaus und der Kultur in die sächsische Gegenden gefolgt seien. Dieser Deutung würde auch die Tatsache entsprechen, dass auf einem Taler des Werdener Abtes Adolf Borcken (1667-1670) die drei Vögel zu den Füßen des Heiligen Ähren in den Schnäbeln tragen."

Ein anderes Gänse-Wunder soll sich ebenfalls in Billerbeck ereignet haben: Ein Bauer war über Wassermangel und Trockenheit auf seinem Hof betrübt und bat den Heiligen um Hilfe. Da nahm Liudger zwei Gänse, steckte sie mit den Köpfen in die Erde und befahl ihnen, dort zu graben. Der Bauer fand schließlich Wasser; und die Gänse kamen am Fuß des Bergs mit einer Quelle heraus. An dieser Wasserstelle – dem heutigen Ludgerusbrunnen in Billerbeck – soll Liudger dann auch getauft haben.

Ludgerusbrunnen und Legenden in ähnlichen Versionen gibt es aber auch in Heek und Lippborg. Eine Variation des Wasser-Wunders ist aus Haltern bekannt: Als dort ein Bauer über eine versiegte Quelle auf dem Tannenberg klagte, habe Liudger seinen Wanderstab in den Boden gerammt, und sogleich soll an der Stelle frisches Wasser geflossen sein. Und selbst in den trockensten Jahren sprudelte dort immer frisches Wasser hervor.

Heilung und gute Gaben

In der "Vita secunda" schildert Bischof Altfrid sehr umfangreich die Wundertaten Liudgers und einige Mirakel, die sich nach dem Tod des Heiligen – vor allem an seinem Grab oder durch Fürbitten – ereignet haben. Heilungsgeschichten und Berichte von guten Gaben unterstreichen das heroische und heiligmäßige Leben Liudgers.

So soll er einen blinden Mann in Ahlen und eine gelähmte Frau in Friesland geheilt sowie einen Toten im Hessen-Land zum Leben erweckt haben. Im Emsland bewahrte er einen Mann vorm Tod am Galgen, und in Leer verhalf er durch Fürsprache bei Gott verzweifelten Fischern trotz einer Flaute zu einem guten Fischfang.

Namentlich genannt wurde Bernlef, der blinde Sänger in Helwerd bei Groningen. Er zog in Friesland umher, um von Schlachten und Taten der alten Könige zu künden. Doch seit er mit Blindheit geschlagen war, konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Und da er versprach, fortan zum Lob Gottes tätig zu werden, bat Liudger im Gebet für seine Heilung.

Und noch weit nach der Zeit und den Aufzeichnungen von Bischof Altfrid berichteten die Menschen, dass sie in Krankheit und Not durch inbrünstige Fürbitte Heilung und wundersame Fügung zum Guten erlangt hätten.

Auch wenn uns heute manche Sagen und Mysterien über Liudger allzu fantastisch erscheinen und deren Inhalt letztlich nicht historisch verbürgt ist, über die Jahrhunderte haben sie dazu beigetragen, dass das Andenken an den ersten Bischof von Münster in breiten Schichten der Bevölkerung aufrecht erhalten wurde. Bilder und Brauchtum, Lieder und Legenden sagen manch einem oft mehr als nüchterne Lebensbeschreibungen.

Text: Dieter Lammerding, Kirche+Leben
26.03.2009