Der münstersche Kirchengeschichtler Alois Schröer stellt die Vita des heiligen Liudger vor. kirchensite.de dokumentiert den Text in voller Länge:
Der erste Bischof von Münster entstammte einer vornehmen friesischen Familie. Liudgers Vater hieß Thiadgrim, seine Mutter Liafburg. Die Eltern gehörten christlichen Familien an. Der Großvater väterlicherseits, Wursing, wird uns als markanter, aufrechter Friese gezeichnet. Als der Friesenherzog Radbod († 719) in seinem Eifer für die völkische Unabhängigkeit des Landes die Christen hart verfolgte, war Wursing noch Heide. In dieser Notlage seiner Landsleute erwies er sich jedoch als ein "Helfer der Armen, Verteidiger der Unterdrückten und gerechter Richter." Mit Freimut erhob er vor dem Herzog Einspruch gegen die Vergewaltigung der Gewissen, sah sich indes kurz darauf gezwungen, mit seiner Familie vor den Nachstellungen Radbods in das Frankenreich zu fliehen, wo er bei Grimoald II. († 714), dem Sohne Pippins II., gütige Aufnahme fand. Unterdessen wurden seine väterlichen Güter von Radbod eingezogen. Am Hofe Grimoalds trat Wursing mit seinen Angehörigen zum christlichen Glauben über. Erst nach Radbods Tod (719) kehrte er in seine friesische Heimat zurück, wo ihm Karl Martell zu Suabsna (Zwesen bei Utrecht?) ein Lehen zuwies.
Liafburg, Liudgers Mutter, war die Tochter Nothrads und Adelburgs. Ihre Familie stand dem heiligen Willibrord nahe und nahm an der Missionierung Frieslands tätigen Anteil. Die beiden Brüder ihrer Mutter, Willibraht und Thiadbraht, waren die ersten geistlichen Gefährten Willibrords aus dem Friesenland. Nothrad war der Sohn einer fanatischen Heidin, die der kleinen Liafburg schon in der Wiege nach dem Leben trachtete. Nothrad selbst scheint Christ gewesen zu sein.
Liudger wurde 742 oder kurz vorher geboren. Nach Altfrid machten sich bei ihm schon in früher Jugend Anzeichen seines künftigen Berufes bemerkbar. Die alten Biographen rühmten den Ernst des Kindes sowie seine Vorliebe für geistige Beschäftigung. Er sammelte angeblich Pergamentblättchen und Baumrinde, die man als Kienspäne verwendete, fügte sie nach Art von Büchern zusammen und beschrieb sie mit Holzstäbchen. Die Neigung zum Studium nahm mit den Jahren bestimmtere Formen an. Als der Knabe eines Tages seine Eltern bat, ihn einem "Gottesmanne" zur Ausbildung zu übergeben, war das gleichbedeutend mit der Bitte, Priester werden zu dürfen.
Begegnung mit Bonifatius
Außer der christlichen Luft im elterlichen Hause hatte ohne Zweifel eine Begegnung des empfänglichen Knaben mit dem heiligen Bonifatius, dem Apostel der Deutschen und gefeierten päpstlichen Legaten, auf diese Berufswahl einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt. "Es war mir vergönnt", so schreibt Liudger nach langen Jahren, "ihn mit eigenen Augen zu sehen, einen Greis in schneeweißem Haar , hinfällig vor Alter, aber mit Tugenden und Verdiensten geschmückt." Dieser tiefe Eindruck wird sich nur verstärkt haben, als im Juni 754 die Nachricht von dem blutigen und heldenhaften Tod des großen Apostels eintraf, und Liudger, wie wir annehmen dürfen, zu Utrecht an der Bahre des heiligen Blutzeugen stand.
"Die Eltern aber freuten sich und lobten Gott ", sagt Altfrid, "als sie den Wunsch ihres Sohnes vernahmen, und übergaben ihn dem ehrwürdigen Abt Gregor von Utrecht, dem Schüler und Nachfolger des heiligen Märtyrers Bonifatius, damit er ihn für Gott erziehe." Die Utrechter Stiftsschule, deren Schüler Liudger nun wurde, genoss damals wegen der hervorragenden Lehrtätigkeit ihres Leiters einen ausgezeichneten Ruf. Liudger widmete in späteren Jahren (790/91) seinem Lehrer und Erzieher ein Lebensbild, das zwar als Geschichtsquelle unbedeutend ist, aber durch die Wärme der Darstellung den Leser fesselt. Das pastoral geprägte Erinnerungsbändchen ist, wie Karl Hauck mit Recht feststellt, trotz seiner Grenzen als eine Kostbarkeit aus der Frühgeschichte Münsters zu würdigen. "Nicht einem Volksstamme allein", schreibt Liudger, "gehörten die Schüler an, die bei ihm zusammenströmten; nein, die Blüte aller benachbarten Nationen hatte sich hierher vereint. In allen aber herrschte ein solch freundlicher, familienhafter und freudiger Geist, dass man sie als Söhne eines geistlichen Vaters und einer Mutter, der heiligen Liebe, erkannte... Unter allen Zöglingen", fügte er hinzu, "war ich der mindeste, der ärmste und schwächste."
Der Unterrichtsgang, dem sich Liudger in Utrecht unterzog, diente dem Ziel, nach dem althergebrachten Lehrplan der sieben "freien Künste" – Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie - die Grundlagen der humanistischen Bildung zu vermitteln. Daneben pflegte man den Choral und betrieb das Studium der Heiligen Schrift und der Väter.
Von Utrecht nach York
Nach etwa zwölfjährigem Aufenthalt in Utrecht begab sich Liudger 767 zur alten Bischofsstadt York in England, empfing die Diakonsweihe und setzte seine Studien an der dortigen Domschule fort. Hier saß er zu Füßen Alkuins, des berühmten Gelehrten, mit dem ihn später enge Freundschaft verband. So teuer Liudger die Utrechter Stiftsschule gewesen sein mochte, hier in York wurde er gar bald des Unterschiedes inne, der zwischen beiden Schule bestand. Während Gregor seine Kleriker schulte, pflegte man in England wirkliche Bildung. Der Gesichtskreis war weiter, das Eindringen tiefer. In der reichhaltigen Bibliothek fand Liudger nach einem Wort von Alkuins "die Denkmäler aus der Zeit der Väter, alles, was Römerweisheit auf dem Boden Italien geschrieben, was Griechenland und Lateinern hatte bieten können, und was dem Hebräervolk durch des Himmels Gunst war eingegeben worden." Hier fand Liudger eine Welt, die ihn fesselte. Er reiste daher 769 zum zweiten Male nach England, nachdem ihm sein väterlicher Freund in Utrecht, der ihn zunächst mit liebevollen Worten von seinem Vorhaben abzubringen suchte, die Erlaubnis erteilt hatte. Er blieb nun dreieinhalb Jahre in York und vertiefte sich unter Alkuins Leitung in die Geheimnisse der Heiligen Schrift. Gründlich ausgebildet in geistlicher und weltlicher Wissenschaft und, wie Altfrid nicht unterlässt zu bemerken, wohl versehen mit einem guten Vorrat an Büchern, kehrte er in seine friesische Heimat zurück.