Das Leben im Missionsgebiet Liudgers

Sie selbst haben nichts aufgeschrieben, weil sie noch keine Schriftkultur besaßen. Und so muss man sich auf die Aufzeichnungen jener verlassen, die aus einer anderen Kultur kamen, wenn man nach Informationen über die Germanen sucht. Römer oder Franken verzerren das Leben nordöstlich des Rheins in der Zeit des ersten Jahrtausends nach Christus durch ihre eigene kulturelle Brille. Spätere Aufzeichnungen verzerren durch die zeitliche Distanz.

"Ihr ganzes Leben ist zwischen Jagd und Kriegsübung geteilt. Von Jugend auf gewöhnen sie sich an Strapazen und sind auf Abhärtung bedacht", schreibt Julius Cäsar (100 bis 44 v. Chr.) im "Gallischen Krieg". "Am wenigsten ertragen sie Durst und Hitze, wohl aber sind sie durch Klima und Bodenbeschaffenheit gegen Kälte und Hunger abgehärtet", schreibt Cornelius Tacitus (55-120 n. Chr.). "Ich habe niemals Leute gesehen mit vollkommenerem Körperbau: groß wie Dattelpalmen, blond und so blutvoll, dass der Mann ein Gewand trägt, welches nur die Hälfte seines Körpers bedeckt", schreibt Ibn Fadlan, ein arabischer Reisender (11. Jahrhundert).

Archäologischer Blick

Wer sich dem Bistumsgebiet in der Zeit des Frühmittelalters, seinen Menschen, seiner Kultur und damit auch der Situation nähern will, in die der Missionar Liudger seinerzeit kam, muss deshalb vor allem auf die Ergebnisse der Archäologie blicken. Sie erzählen direkt und unvoreingenommen vom alltäglichen Leben der sächsischen Großgruppen: der Westfalen, Engern und Ostfalen, die in der Zeit des ausgehenden 8. Jahrhunderts dieses Gebiet besiedelten.

"Es war ein Entlanghangeln am Rande der Existenz", sagt Liesel Drexler aus dem Arbeitskreis "Sachsenhof" des Grevener Heimatvereins. Auf der Basis von wissenschaftlichen Funden ist in der Nähe der münsterländischen Stadt das Lebensumfeld der damaligen Zeit rekonstruiert worden. "Hunger war der ständige Begleiter – Elend, Krankheit und Tod waren ständig präsent." Das große reetgedeckte Lehmhaus, kleine Felder und Gärten direkt am Hof, einige Grubenhäuser und kleine Scheunen erzählen die Geschichte dieses täglichen Überlebenskampfes.

Sie waren bäuerliche Selbstversorger, die kleine Parzellen bewirtschafteten, die sie der damals noch dicht wuchernden Waldfläche abtrotzten. Straßen gab es keine, Standorte an Flüssen oder Bächen waren bevorzugt – zur Wasserversorgung und aus Transportgründen. "Es war eine Kultur der Familie, bei der etwa 15 Personen aus drei Generationen in einem großen Raum des Hauptgebäudes zusammenlebten", so Drexler. "Die Weitergabe von Wissen geschah in erster Linie hier." Engere Verbindungen gab es nur noch zu verschwägerten Höfen. Allein in Kriegszeiten rückten größere Gruppen zusammen, wenn die "Gaufürsten", die Obersten eines regionalen Verbundes, das gemeinsam beschlossen.

Allgegenwärtiger Kampf

"Krieg und Kampf waren allgegenwärtig", erklärt Drexler. Gegen fremde Völker, aber auch in den eigenen Reihen. Es ging rau zu bei den Germanen: Mit 15 Jahren war der Mann waffenfähig und übte in Männerbünden die Kriegsfertigkeit. "Das Überleben der Sippe zu schützen war erste Pflicht, denn es gab keinen größeren Reichtum als den eigenen Nachwuchs." Mit zum Teil martialischen Riten sicherte man dieses System und nahm sich die Furcht vor dem Kampf. Es gab die Blutrache, und nur wer eine Zahl an Männern erschlagen hatte, konnte nach seinem Kriegsdienst ehrenvoll zur Familie zurückkehren. "Die Zeit zwischen Römern und Rittern war eine sehr dunkle Zeit."

Der Kampf um das tägliche Essen war nicht weniger hart. "Es kam immer darauf an, irgendwie über den nächsten Winter zu kommen." Im Sommer war der Tisch durch die Früchte des Gartens, der Felder und des Waldes reich gedeckt. Man musste für die dunkle Jahreszeit Vorsorge treffen. Getreide, Hülsenfrüchte, Honig, Fleisch und viele andere Produkte mussten haltbar gemacht werden. Mit einfachen handwerklichen Möglichkeiten gelang das: Tontöpfe, Räucheröfen, Heubergen... Um dieses System musste den ganzen Tag gekämpft, Lagerstätten erhalten, Werkzeug gebaut, Futter gesucht und die Äcker bestellt werden. Zudem fanden die Archäologen einige Webstände zur Herstellung von Textilien. Ein Handel mit anderen Regionen war kaum gegeben.

Zwangsläufig naturverbunden

Die Sachsen dieser Zeit müssen zwangsläufig naturverbunden gewesen sein. "Der Wald war alles für sie: Lebensraum, Ernährer, Baustofflieferant und mystische Kulisse: Ihnen war wohl stets bewusst, dass sie größeren Mächten ausgeliefert waren." Wie und in welcher Form sie ihre Religiosität auslebten, ist im Rückblick nur äußerst schwer zu beantworten. "Vielleicht haben sie in den Zeichen der Natur die Zeichen der Götter gesehen", überlegt Drexler. "Im Sternenhimmel, im Regenbogen, im Gewitter." Nachweisen kann man das bislang nicht, denn auch hier fehlen die eigenen, "ehrlichen" Aufzeichnungen der Germanen.

Text / Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben
29.03.2005