Mit Liudger kam der Umbruch

Als am 11. März die drei Ausstellungen zum Bistumsjubiläum mit einer Feierstunde im münsterschen St.-Paulus-Dom eröffnet wurden, beschworen alle Festredner nur ein und dasselbe: Mit Liudger kam ein großer Kulturumbruch. Der Kirchen­historiker Prof. Dr. Arnold Angenendt stellt die Zeit Liudgers sowie den Missionar und ersten Bischof von Münster vor.

In der Tat, es war ein umstürzender und verändernder Umbruch. Fangen wir an bei der Religion. Die germanische Religion kannte zum Beispiel immense Opfer. In Mooren Dänemarks und Südschwedens hat man jahrhundertelang begangene Opferplätze entdeckt: an einer dieser Stellen zum Beispiel an die 1000 Speere, zahlreiche Schwerter, Schmuck und Geschirr aus Gold, Silber und Bronze, sodann 17.000 Knochenreste von Pferden, Rindern und Schafen, zuletzt die Reste von mindestens 38 Menschen.

Die Germanen praktizierten Menschenopfer, und Liudger hat solche noch erlebt. Die Missionare kämpften gegen diese Opferpraxis. Bei der Taufe fragten sie nicht nur: Widersagst du dem Satan? Sie fragten zusätzlich: Widersagst du den heidnischen Opfern? So ausdrücklich im Altwestfälischen Taufgelöbnis, überliefert aus Werden, der Klostergründung Liudgers. Die Abschaffung der Menschenopfer - wahrhaftig ein Kulturumbruch.

Gaben für die Armen

Ein Weiteres ist anzuschließen. Die Germanen waren extrem kriegerisch, bis in ihre Religion hinein. Im Namen ihres obersten Gottes Wodan steckt das Wort (Kriegs-)Wut. Ihren Himmel Walhall, stellten sich die germanischen Krieger als Kampfplatz vor, nahmen deswegen ihre Waffen mit ins Grab, um im Jenseits weiter zu kämpfen. Auch hier war die Mission erfolgreich. Die Mitnahme von Waffen ins Grab hörte auf und stattdessen sollten fortan Gaben für Arme und Kirchen gegeben werden.

Weiter, die Missionare, die damals den Friesen und Sachsen predigten, kamen aus England. Die dort bekehrten Angelsachsen entsannen sich ihrer Vorfahren auf dem Kontinent. Zwischen 680 und 780 kamen in Scharen Männer und Frauen zur Mission he­rüber. Geläufig sind uns Willibrord (+739), der Apostel der Niederlande, Winfried-Bonifatius (+754), der Apostel der Deutschen. Dazu gehören aber auch die beiden Ewalde, die irgendwo zwischen Arnheim und Wesel erschlagen wurden, oder Lebuin, der in Deventer an der Ijssel eine Missionsstation leitete, auch Willehad, der erste Bischof von Bremen.

So wie in unserer Zeit aus dem Münsterland zwischen 1870 und 1970 zahlreiche Patres und Schwestern in die Mission gingen, so kamen damals die Missionare aus England zu uns. Liudger ist in Utrecht, in der von dem Engländer Willibrord begründeten Domschule herangebildet worden. Er war von den englischen Missionaren so sehr begeistert, dass er nach England hinüberging, um beim damals gelehrtesten Professor zu studieren, bei Alkuin (+804), der "Kultusminister" Karls des Großen werden sollte.

Buchreligion Christentum

Als Liudger zurückkehrte, brachte er etwas mit, was östlich und nördlich des Rheins neuartig war: das Buch. Bedenken wir: Kein Mensch kann alles neu entdecken oder neu erfinden. Aber aufgeschrieben in einem Buch, vermögen wir uns rasch vielerlei Kenntnisse zu eigen zu machen. Schlagartig machen Bücher das menschliche Leben reicher. Dieser Schritt geschah mit der Ankunft der "Buchreligion" Christentum.

Am liebsten wäre Liudger wohl Professor geworden. Aber er musste in die Mission, zunächst in die von den Sachsen niedergebrannte Missionsstation des Lebuin nach Deventer, dann zum Ort des Bonifatius-Martyriums nach Dokkum in Nordfriesland, zuletzt seit 793 ins Münsterland.

Hier begegnete er einer Katastrophe, den Verwüstungen des Sachsenkriegs Karls des Großen, vor allem auch dessen schonungsloser Zwangsmission: Tod oder Taufe. Wir wissen, wie Liudger selber darüber dachte: Mission gedeihe nur in friedlichen Zeiten. Liudgers Lehrer Alkuin wurde deutlicher; Briefe von ihm kritisierten schonungslos: Man könne zwar, wie bei Karls Gewaltmission geschehen, die Sachsen zusammenbinden und durch den Taufbrunnen ziehen, aber eine Taufe sei das nicht. Erwachsene müssten bei ihrer Taufe mit Verstand und Herz zustimmen.

Solche Forderungen geboten sich vom christlichen Erstgebot her, nämlich Gott und den Nächsten zu lieben – ein Gebot übrigens, das Liudger in seinen Lebenserinnerungen, die wir von ihm haben, obenan stellte. Nun sagen uns allerdings die Sprachhistoriker, dass das Begreifen von Glaube und Liebe den Menschen damals geradezu unmöglich war.

Barmherzigkeit und Milde

Für die geistigen Vorstellungen und ethischen Gebote des Christentums war erst noch die Sprache zu schaffen. Begriffe wie "Barmherzigkeit" und "Milde" sind in einem Jahrhunderte dauernden Entwicklungsprozeß in die deutsche Sprache eingeführt worden.

Wie aber wollte man da Christentum predigen, ohne dessen Zentralbegriffe? Aufs Ganze gesehen geschah nicht einfach ein Religionswechsel, als wären an die Stelle von Wodan und Donar nur der christliche Gottvater und Jesus Christus getreten, ansonsten aber alles gleich geblieben. Zusätzlich schuf das Christentum ganz neue Sozialverhältnisse. So verschwand in karolingischer Zeit die Sklaverei.

Vor allem auch wandelte sich die Familie. Aus der Mann-bestimmten Ehe entwickelte sich die "Partner-zentrierte Ehe". Der Sozialhistoriker Michael Mitterauer (der im vergangenen Jahr den Deutschen Historiker-Preis erhielt) sieht in dem christlichen Konsensprinzip, also in der Zustimmung von Mann und Frau zueinander, eine langfristige Entwicklung angebahnt: "das Ideal der Liebesehe".

Liudger hat solches alles gesehen und miterlebt und christlich umzugestalten gesucht, eben den vielberedeten Kulturumbruch herbeigeführt. Für seine Person war er in die andere, in die christliche Welt hinübergegangen, hat sich die neue christliche Botschaft wirklich angeeignet und auch verstanden. Wie kaum ein anderer lässt er uns in seine Seele schauen. Die weitere Aneignung des Christentums ist eigentlich der Kernprozess der nachfolgenden mittelalterlichen Geschichte, also der nächsten 500 Jahre.

Liudger war ein Mann, der diesen Prozess innerhalb seiner eigenen Lebensspanne vollzog, so wie wir es heute in der Dritten Welt bei Menschen erleben, die in einer Lebensspanne den Schritt vom Urwald in die Hochzivilisation bewältigen. Liudger verdient unsere Bewunderung.

Text: Arnold Angenendt in Kirche+Leben
Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben
30.03.2005