Der Münstersche Dom bewahrt unter seinen Bildwerken ein eigenartiges Vortragskreuz aus dem späten 14. Jahrhundert, das man heute bisweilen als "Pestkreuz" zu bezeichnen pflegt. Der Grund für diese Bezeichnung liegt in der Annahme, dass die Pestnöte der Zeit um 1350 sich in ihm spiegeln, obwohl die zeitliche Verbreitung dieses Typus des leidvollen Gekreuzigten sich auf das ganze 14. Jahrhundert - aber auch weit darüber hinaus - erstreckt.
Max Geisberg bezeichnet dieses Kruzifix in seinem Dom-Inventar von 1937 als "schwarzen Herrgott" wohl nach der heutigen dunklen Farbigkeit des Werkes, die durch den Russ der tausenden und abertausenden im Zeichen der hohen Verehrung Christi vor diesem Kreuz angezündeten Kerzen gebildet wurde.
Die ähnliche Assoziationen hervorrufenden Bezeichnungen "Schwarzer Herrgott", "Schwarzer Tod" (Pest) erinnern abermals an die für die Völker des spätmittelalterlichen Abendlandes verheerende Epidemie, mit der dieses Kreuz des Domes anscheinend nur mittelbar in Beziehung zu setzen ist. Die mehrfache, symbolische Bedeutung dieses Kruzifixus weist jedoch über seine modernen, nur literarisch überlieferten Bezeichnungen hinaus.
Schwere, dichtgeflochtene Dornenkrone
Das hölzerne Kreuz und der vollplastisch gestaltete Körper des Gekreuzigten gehören original zusammen. Der Körper Christi ist mit drei Nägeln an das Kreuz geschlagen. Sein erhobenes, bärtiges Haupt trägt eine schwere, dichtgeflochtene Dornenkrone. Sein Antlitz ist zergrämt und zeigt die Züge erlittenen Leids. Seine halbgeöffneten Augen sind geschwollen, seine Wangen eingefallen, seine Lippen leicht geöffnet. Seine Haare fallen in langen Büscheln auf Brust und Schulter. Seinen etwas nach vorne geneigten Nacken bedecken gleichmäßig vier wellige Haarsträhnen.
Auf dem Kreuz hängt aufrecht und gespannt zugleich sein ausgemergelter Körper von fast kindlicher Gebrechlichkeit. Die Arme sind steif, schräg nach oben gestreckt. Die mit Nägeln durchbohrten Hände schließen sich um den in die Handfläche gebogenen Daumen, wie bei einem Toten.
Der Brustkorb ist abgemagert. Aus der Seitenwunde fließen Blut und Wasser als Zeichen des leiblichen Todes. Das Lendentuch ist ganz eng um die Hüften geschlungen, umgeknotet, und es bildet an beiden Seiten lange ausladende Tuchenden, die in Falten ungleich bis zu den Knien herabhängen. Die Beine sind kraftlos nach unten gestreckt, etwas eingeknickt. Die Füße sind übereinandergelegt und mit einem Nagel ans Kreuz geschlagen.
Zwei kleine Aushöhlungen an der Rückseite
Die Rückseite des hölzernen Korpus zeigt zwei kleine Aushöhlungen. Die etwas kleinere misst 3,0:1,5:1,5 cm, die andere hochovale Aushöhlung etwa 7,0:2,5:3,0 cm. Die kleinere Öffnung sitzt zwischen den Schulterblättern, die größere im Bereich der Beckenknochen, den rückseitigen Teil des Lendentuches durchschneidend. Beide höhlenartigen Vertiefungen sind heute leer. Es liegt im Bereich des Möglichen, dass sie ursprünglich als "Reliquiengrab" gedient haben. Der Kruzifixus war also nicht nur "Skulptur", sondern auch ein "Gefäß" für Reliquien, die ihm eine höhere Bedeutung verliehen haben.
Die Vorstellung des Kreuzestodes, des menschgewordenen Gottessohnes ist das zentrale Bild des Christentums. Über die Kreuzigung berichten die Evangelien nur ganz knapp. Sie geht auf folgende biblische Quellen zurück: Markus 15, 25 und Parallele: et crucifixerunt eum. Nach Johannes 20, 25 und Lukas 24, 39 können wir auf eine Annagelung der Hände und Füße Jesu schließen. Nur im Johannesevangelium (19, 34) findet sich der Hinweis auf die fünfte Wunde Jesu, die ihm durch den Lanzenstich zugefügt wurde. Das Evangelium des Nikodemus (10, 1) erwähnt das Lendentuch und die Dornenkrone. Neben diesen Zeichen der Passion und des irdischen Todes Christi, war man jedoch stets bestrebt, das Überirdische und Göttliche im Irdischen und Geschichtlichen transparent zu machen. Davon zeugen die reichen schriftlichen und bildlichen Überlieferungen der vorangehenden Jahrhunderte, von der Entstehung, der ersten Darstellungen des Gekreuzigten bis hin zur Entstehung des Pestkreuzes des Münsterschen Doms.