V15:
Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene aller Schöpfung.
V16:
Denn in ihm wurde erschaffen das Allsamt:
in den Himmeln und auf der Erde,
das Sichtbare und das Unsichtbare.
Ob Throne, ob Herrenwürden,
ob Mächte, ob Vollmachten:
das Allsamt ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen.
V17:
Und er ist vor allen
und das Allsamt ist in ihm zusammengehalten.
V18:
Er ist der Kopf des Leibes: der Kirche.
Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten,
auf dass unter allen er der Erste würde.
V19:
Denn es hat der Allfülle Gottes gefallen,
in ihm zu wohnen,
V20:
und durch ihn zu versöhnen das Allsamt - auf ihn zu,
indem er Frieden schaffte durch das Blut seines Kreuzes:
sei es dem, was auf der Erde,
sei es dem, was in den Himmeln - durch ihn.
(Übersetzung nach F. Stier)
Innerhalb des paränetischen, d.h. lehrhaften Hauptteils (Kol 1, 15 - 2, 23) stellt der Christushymnus die theologische Basis der gesamten Argumentation dar. Der Verfasser des Kolosserbriefes findet ihn bereits vor und greift ihn nun im Zuge seines Schreibens auf, um seine eigenen theologischen Akzente von hier aus verstehbar werden zu lassen.
Der Hymnus gliedert sich formal und inhaltlich in zwei Strophen. Insbesondere die (griechische) sprachliche Parallele "Er ist das Ebenbild" V15 und "Er ist der Ursprung" V18b markiert die Eröffnung einer neuen Reihe. Nimmt die erste Strophe (V. 15-18a) die kosmologische Dimension des Christusereignisses in den Blick, widmet sich die zweite Strophe (V. 18b-20) seiner soteriologischen, d.h. heilsbedeutsamen Entfaltung.
Der Hymnus umschreibt Jesus Christus mit einer Vielzahl von Prädikationen: Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene, das Haupt und der Anfang. Die vielen Namen eines Wesens zeugen in der griechischen Antike von seiner Größe (im Zeushymnus des Kleanthes (537) wird Gottkönig Zeus als der "vielnamige Herrscher des Weltalls" bezeichnet). Wenn Kol 1,15 Jesus Christus als das "Bild" des unsichtbaren Gottes tituliert, darf darin eine Anspielung auf die in Gen 1,26 proklamierte Gottebenbildlichkeit des Menschen gesehen werden, durch die Christus jetzt als der "neue Mensch" bzw. der "neue Adam" vorgestellt werden kann. In ihm sind sowohl das Verkauftsein des alten Menschen unter die Unheilsmacht der Sünde als auch seine Todverfallenheit aufgehoben und überwunden.
Dem hellenistischen Geist eröffnet sich eine weitere Perspektive. Der griechische Philosoph Plato bezeichnet die sichtbare Welt als "Abbild des geistigen (Gottes)"; sie ist ein "sichtbarer Gott" (vgl. Timaios 92c). Plato definiert die geschaffene Welt: Alles Sicht- und sinnlich Wahrnehmbare ist das schattenartige Abbild einer höheren Welt der Ideen. Philo von Alexandrien, wohl der bedeutendste Autor des hellenistischen Judentums, greift diese platonische Weltsicht später behutsam auf und entwickelt daraus seine Logoslehre, die die platonische Urbild-Abbild-Struktur auf den biblischen Schöpfungsglauben überträgt. Nicht mehr die geschaffene Welt, sondern der Logos als die Zusammenfassung der Ideen ist für ihn Bild Gottes. Wie ein zweiter Gott steht dieser Logos, den Philo "Anfang" und "Bild" nennt (leg.all. I 43), der Welt gegenüber, mehr noch: Sie ist nach seinem Bild geschaffen, er hat ihr die Schöpfung vermittelt. Dadurch erscheint die Welt als Abbild eines Abbildes. Philo nähert sich nicht ohne Geschick antikem griechischen Denken an. Er erklärt die Welt vor dem Hintergrund hellenistischer Plausibilitäten und schafft zugleich eine Annäherung an den biblischen Schöpfergott. Denn das (von griechischem Denken stark geprägte) biblische Buch der Weisheit stellt die "Weisheit" an die Seite Gottes: Sie ist "Abglanz ewigen Lichtes, ungetrübter Spiegel seines Wirkens und Abbild göttlicher Vollkommenheit" (vgl. Weish 7,26). Zwar an Gottes statt stehend, aber dennoch nicht von ihm unterschieden, war sie geheimnisvoll mit ihm am Werk bei der Erschaffung der Welt (Spr 8, 22-31). Im Unterschied zum philonischen Logos gibt es für die Weisheit keine Abbilder in der Welt: Sie ist allein von Gott her offenbar. So kommt die weisheitliche Gedankenwelt der des Christushymnus Kol 1, 15-20 sehr nahe.
Bibelarbeiten
Jesus, der Sohn des lebendigen Gottes.
In Christus, dem Abbild, manifestiert sich die Schöpfermacht Gottes in der Welt. Im Vordergrund dieser Aussage steht das christologische Interesse des Kolosserbriefes. Das Abbild bleibt also nicht im platonischen Sinne qualitativ hinter dem Urbild zurück, es wird auch nicht im philonischen Sinne zum Urbild für die geschaffene Welt, sondern gehört in die Sphäre Gottes hinein. In Christus ist Gott zugegen. Abbild ist Christus, insofern sich in ihm und durch ihn die schöpferische Wirkmacht Gottes in der Welt zur Geltung bringt.
Die zweite Prädikation, die Christus zugesprochen wird, ist die des "Erstgeborenen aller Schöpfung". Der Begriff "Erstgeborener" ist ein juridischer. Im Alten Testament kommt ihm das Erstgeburtsrecht zu. Im übertragenen Sinn werden sowohl das Volk (Ex 4,22f; Sir 36; Jer 31,9) als auch der König (Ps 89,28) "Erstgeborene" genannt und so das liebevolle Ausgewähltsein von Gott her betont. Doch mehr noch als an der besonderen Beziehung des erwählten Erstgeborenen zu Gott ist der Christushymnus des Kolosserbriefes an der Verwiesenheit der Schöpfung auf den Erstgeborenen interessiert. In ihm, durch ihn und auf ihn hin wurde das All erschaffen (V16). Die Prädikation "Erstgeborener der Schöpfung" markiert sowohl die im Willen Gottes gründende, vor aller Zeit beschlossene Erwählung Christi als auch seine alle Schöpfung überragende Macht.
V17 bestätigt dies. Wenn es dort heißt, Christus sei "vor aller Schöpfung", klingt damit zwar wiederum der Gedanke der Präexistenz des Logos Christus an, das zeitliche Prae versteht sich hier jedoch im Sinne einer Vor- bzw. Überordnung. Christus ist es, der dem All, also allem, was ist, Bestand verleiht. Er ist nicht nur Schöpfungsmittler, sondern auch Schöpfungserhalter.
V18 nennt Christus das "Haupt des Leibes" und unterstreicht mittels dieser Prädikation erneut die tragende Rolle Christi im kosmologischen Ganzen. Die Vorstellung eines beseelten, organismus-, ja sogar leibartigen Kosmos findet nicht nur in der griechischen Philosophie (hier v.a. bei Plato, in der Orphik und in der Stoa), sondern auch im hellenistischen Judentum breite Aufnahme (vgl. Philo, Quaest. In Ex. 2, 117; lib.all. 3, 175). In der Perspektive des Kolosserbriefes ist Christus als Haupt des Leibes Herr und Hirte der Kirche. Die unmittelbare Nähe des Kolosserbriefes zum paulinischen Kirchenverständnis als Leib des Hauptes Christus (vgl. Röm 12,4f.; 1 Kor 12,13ff; 10,17; 1,13) ist unverkennbar. In den Blick kommt die Gemeinschaft der Glaubenden, die sich unter ihrem Haupt Christus versammelt und zugleich Richtung und Sinn erfährt. Die Kirche ist der Ort, in der die Weltherrschaft Christi schon jetzt wirkmächtig erfahrbar wird. Ihr Auftrag ist es aber, alle Menschen durch die Verkündigung des Evangeliums für Christus zu gewinnen.
Die zweite Strophe des Hymnus hebt mit einer weiteren Reihe von Christusprädikationen an: Er ist der Ursprung und Erstgeborene der Toten (V18b). Wieder liegen die Bedeutungsebenen der Prädikationen eng beieinander. Thema ist nicht länger die "alte" Schöpfungswirklichkeit, sondern die im Sinne göttlicher Neuschöpfung vorgestellte Rettung und Erlösung der Menschen. Christus ist der Ursprung, aus dem die neue Schöpfungswirklichkeit hervorgeht. Darum ist er zugleich der "Erstgeborene der Toten", der als neuer Adam die Schuldverstrickung des alten Adam durchbricht und an die Stelle des Todes das neue Leben in Christus setzt. Angesprochen ist nichts Geringeres als das Geheimnis von Ostern. Insofern Christus der Urheber allen Heils und Spender neuen Lebens ist, steht er aller Schöpfungswirklichkeit voran. Wie der Apostel Paulus (vgl. 2 Kor 5,20 - hier übrigens ebenfalls im Kontext schöpfungstheologischer Konnotationen) deutet auch der Verfasser des Kolosserbriefes dieses von Gott her in Christi Tod und Auferweckung grundgelegte Heilsereignis als ein Versöhnungsgeschehen. Vorausgesetzt ist dabei die Tatsache vormaliger objektiver Feindschaft der Menschen zu Gott, die sich in der Macht der Sünde Ausdruck verleiht und im Untergang der Lebenden manifestiert. Gottes gnadenhafte und liebevolle Zuwendung allein eröffnet den Menschen neue Möglichkeiten: In der Auferweckung des Gekreuzigten zerbricht Gott das Joch der alten Feindschaft und stiftet Versöhnung, indem er das Leben in jeder Hinsicht über den Tod triumphieren lässt und so umfassenden Frieden (Schalom) ermöglicht (vgl. V20).