Die Reliquienstatue des Heiligen Liudger

Die Kathedralkirche St. Paulus in Münster zeigt seit 1987 - zur Erinnerung und Verehrung - eine silberne Reliquienstatue des heiligen Liudger in der neugestalteten Ludgeruskapelle, der Grabkapelle des Kardinals Clemens August von Galen. Die aus Kupferblech getriebene, versilberte und teilvergoldete 101 Zentimeter hohe Statue ist auf ihrer rückseitigen Sockelkante signiert und datiert: "angefertigt von R. Bruun, Münster i. Westfalen 1880". Sie bewahrt die Fingerreliquie des Heiligen. Das Werk des Goldschmiedes Rasmus Bruun (1814-1889) fand in der ikonographischen Forschung bisher wenig Beachtung. Lange Zeit war es museal aufbewahrt.

Zwischen 1981 und 1987 erinnerte diese Statue in der Domkammer an die Gründung der ersten Domschule durch den heiligen Liudger an dieser Stelle. Die Fragen jedoch, die bei ihrer Betrachtung stets aufgetaucht sind, blieben bis heute unbeantwortet.

Wer war ihr Auftraggeber?

Wurde die Statue für die Ludgeruskapelle des Doms gestiftet? Aus welchem Anlass wurde sie in Auftrag gegeben? Wer war ihr Auftraggeber? Wie und wann gelangte die Fingerreliquie des Heiligen nach Münster? Zuletzt blieb die Suche nach den Spuren dieser Stiftung doch nicht ganz ohne Erfolg. Das Münstersche "Sonntagsblatt für katholische Christen" (39. Jg. 1880) brachte in seiner 40. Nummer (S. 633) die folgende "kleine Mitteilung":

"Münster, 26. September. Unserer Domkirche wurde heute aus Anlaß der heutigen Jahresfeier der Kirchweihe der Cathedrale von einem Wohlthäter, dessen Name unbekannt bleiben soll, ein wertvolles Kunstwerk verehrt, eine in getriebenem Silber gearbeitete und mit einem großen Reichthume von Filigran und Edelsteinen geschmückte Statue unseres Glaubenspredigers und ersten Bischofs, des h. Ludgerus, welcher mit segnend erhobener Hand stehend auf einem in vergoldetem Kupfer gearbeiteten und reich emaillierten Sockel dargestellt ist. Die Statue, welche die sich im hiesigen Dome befindenden Reliquien des h. Ludgerus aufnehmen soll, hat eine Höhe von mehr als 1 1/2 Meter und wurde von dem hiesigen Goldschmiede Bruun ausgeführt. Die Darstellung, wie die Ausführung ist äußerst gelungen. Das Domkapitel nahm heute Vormittag das Geschenk entgegen. Die Statue wird eine neue Zierde unseres Domschatzes bilden und soll an Festtagen zur Verehrung ausgestellt werden". Soweit die Mitteilung des Sonntagsblattes.

Da die Domkapitel-Protokolle von 1880 im Zweiten Weltkrieg verbrannt sind, bleibt diese Mitteilung vom 3. Oktober 1880 wohl das einzige zeitgenössische Dokument zur Geschichte dieser Stiftung: Der Name des Stifters bzw. "Wohlthäters" soll unbekannt bleiben. Die Statue wurde zweifellos "eine neue Zierde" des Domschatzes, die zum Kirchweihfest des Domes am 26. September 1880 gestiftet wurde. Von manchen Ungereimtheiten abgesehen, die das Material und die Höhe der Statue betreffen, ist die Beschreibung zutreffend. Es fällt gleich auf, dass der vergoldete und "reich emaillierte" (ursprünglich etwa 50 Zentimeter hohe) Sockel der Statue heute nicht mehr erhalten ist. Die beiden Schraublöcher an den unteren seitlichen Kanten der Statue dienten vermutlich dazu, Statue und Sockel miteinander zu verbinden.

Fingerreliquie des Heiligen

Noch eine Kleinigkeit, eine weitere Fehlstelle darf nicht übersehen werden: Unterhalb des Knaufs des Stabes ist eine kleine Öse an einem schmalen ringförmigen Wulst befestigt. Wozu diente sie? Die Stellung der linken Hand lässt die Vermutung zu, dass sie zum Aufhängen des getrennt gearbeiteten Pannisellus, des Tüchleins des Stabes, bestimmt war. Es war usprünglich eine Art Schweißtuch für den Stabträger.

Zu der Stiftung der Statue gesellt sich eine zweite Überlieferung: Die Fingerreliquie des Heiligen gelangte bereits im Jahre 1860 aus Werden in den Reliquienschatz des Domes. Daran erinnen die Forschungen Wilhelm Diekamps,die im Jahre 1881, ebenfalls im münsterischen "Sonntagsblatt für katholische Christen" vom 6. Februar 1881 veröffentlicht wurden:

"Bei den beiden Jubelfeiern endlich, welche in unserem Jahrhundert.1809 und 1860 große Schaaren frommer Gläubigen zum Grabe des großen Sachsenapostels zogen, wurden die Reliquien zur andächtigen Verehrung längere Zeit ausgestellt. In letzterem Jahre fand am 19. Mai die feierliche Eröffnung des Reliquienschreines durch den Weihbischof von Köln in Gegenwart des Bischofs undWeihbischofs von Münster statt. Da wurde durch ärztliche Untersuchung constatirt, dass bei Weitem die meisten, ja fast sämtliche Gebeine noch vorhanden waren. Drei Partikel wurden abgetrennt und am 3. Juni in feierlicher Prozession nach Münster gebracht. Je eine erhielten der Dom und die Ludgerikirche in Münster, die dritte wurde der Ludgerikapelle über dem Borne in Lippborg überwiesen.

Aufruf zur Nachfolge

Für die Partikel der Ludgerikirche beschaffte man schon bald ein Ostensorium, die des Domes wurde bei Gelegenheit des vorigjährigen Reliquienfestes (1880) einer neuen Reliquienfigur des Heiligen anvertraut".

Den Werdener Feierlichkeiten am 19./20. Mai 1860 wohnten der Kölner Weihbischof und Domdechant Dr. J. Baudri, Bischof Dr. Johann Georg Müller, Weihbischof Johann Boßmann und Domdechant Dr. Krabbe aus Münster und der bischöfliche Offizial Reismannaus Vechta bei (s. Sonntagsblatt für kath.Christen 19. Jg. 1860, Nr. 22, S. 348 f.; s. ausführlich die Akten im Archiv der Propsteikirche St. Liudger zu Essen-Werden, Mappen-Nr. 289, 1860-1910.

Ein kurzer Blick auf Leben und Werk des Heiligen (nach Basilius Senger OSB) soll die Liebe zur Wiederholung stärken und zur Nachfolge aufrufen: Der heilige Liudger, der erste Bischof von Münster, stammt aus Friesland. In Zwesen bei Utrecht wurde er 742 in einer westfriesischen Adelsfamilie geboren, die seit drei Generationen christlich war und schon das Werk der angelsächsischen Missionare Willibrord und Bonifatius unterstützt hatte.

Begegnung mit Bonifatius

Als Zwölfjähriger begegnete er dem heiligen Bonifatius. In seinen Spuren wollte er Glaubensbote bei den Friesen und Sachsen werden. Seine Ausbildung erhielt er in dem Utrechter Martinskloster bei Abt. Gregor und in York bei Alkuin. Als leidenschaftlicher Missionar wirkte er zuerst als Diakon in Deventer (776) und dann als Priester in Westfriesland, wo er den Ort des Martyriums des heiligen Bonifatius, Dokkum, als Ausgangsbasis hatte (777-784). Durch heidnische Aufstände vertrieben, weilte Liudger 784-787 zuerst in Rom und dann in Monte Cassino, dem Stammkloster der Benediktiner, ohne Mönch zu werden.

Karl der Große berief Liudger787 zum Missionsleiter der mittelfriesischen Gaue und sandte ihn 792 zusätzlich in das westliche Sachsen. Hier missionierte, organisierte und visitierte er das Münsterland und baute in Mimigernaford/Münster den ersten Dom. Am 30. März 805 wurde Liudger vom Kölner Erzbischof Hildibald zum ersten Bischof von Münster geweiht.

Gründungstag des Bistums Münster

Das ist zugleich der Gründungstag des Bistums Münster. 799 hatte Liudger in Werden an der Ruhr ein Benediktinerkloster gegründet. Liudger war ein Mann des Gebetes, tiefer Herzensbildung, reichen Wissens und verantwortungsbewusster Lebensauffassung. Er zeichnete sich aus durch Klugheit und Maß, Güte und Freundlichkeit, Demut und Liebe, Eifer und Bescheidenheit, Einfachheit und Bereitschaft zur Hingabe. So verzehrte er sich, seinem gekreuzigten Herrn nachfolgend, in der Sorge des Guten Hirten bis zum letzten Tage.

Am Passionssonntag, 25. März 809, predigte er morgens noch in Coesfeld, begab sich dann nach Billerbeck, um auch dort zu predigen und die heilige Eucharistie zu feiern. Hier wurde er in der folgenden Nacht von diesem Leben abberufen. Sein Leib ruht seinem letzten Willen gemäß in der Abteikirche zu Essen-Werden.

Zum Gestalttypus und zur Bedeutung der Statue

Der Heilige, im vollen liturgischen Ornat, ist als asketischer Vater-Typus mit langem, zweigeteiltem Bart charakterisiert: die hagere Gestalt trägt einen Amikt (Schultertuch) und eine Albe, ein langes, bis zu seinen Schultern reichendes Untergewand, beide schmucklos, darübergelegt, eine reichverzierte Stola, die priesterliche Insignie, links und rechts frei herabhängend, darüber die Dalmatik (unter der Kasel) mit gravierten Borten, die unter den erhobenen Händen sichtbar ist, schließlich darübergelegt die Kasel als liturgisches Obergewand, eine so genannte "spätmittelalterliche" Glockenkasel, die etwa nach 1860 wieder allgemein eingeführt werden sollte und als äußerst modern galt.

Das Messgewand des Heiligen ist auf seinen beiden Seiten - in der Form eines Gabelkreuzes - mit goldenen edelstein- und perlenbesetzten Filigranborten verziert. Die goldenen Ranken der Borten sind mit großen, hellgrünen Türkisen und hellvioletten Amethysten besetzt, denen kleine Perlen und Amethyste in Vierergruppen zugeordnet sind.

Im Kreuzungspunkt des vorderen gabelkreuzförmigen Bortbenbesatzes befindet sich die ovale Vertiefung mit der Fingerreliquie des Heiligen, die mit einem großen Bergkristall verschlossen ist. Der Heilige ist ferner mit der liturgischen Kopfbedeckung der Bischöfe, der Mitra, "dem Helm des Schutzes und des Heiles" ausgezeichnet, die reich graviert und ähnlich wie das Messgewand mit edelsteinbesetzten Borten geschmückt ist, jedoch keine Bänder (vitae) hat.

Symbol des heiligen Blutes Christi

Zu den Pontifikalien des Bischofs gehören weiter die Handschuhe, der Stab, das Zeichen seines Hirtenamtes, und der Ring. Den Bischofsstab hält der Heilige in seiner Linken. Die Krümme des Stabes endet in einer Weintraube, dem Symbol des heiligen Blutes Christi, der heiligen Eucharistie, darauf verweisen symbolisch auch die kleinen Rubine an beiden Seiten der Krümme. Die Handschuhe sind oben mit perlenbesetzten Vierpass-Filigranen verziert. Der Bischofsring als "Zeichen der Treue" , mit dem der Bischof sich an seine Kirche bindet, ist mit einem großen violetten Amethyst, Symbol der Demut, geschmückt, im Gegensatz zu den hellgrünen Türkis-Steinen, die die immer grünende frische Liebe zu Christus symbolisieren sollen.

Die Standfläche der Figur bildet ein kleiner, achteckig beschnittener Hügel: sein steiniger Boden ist spärlich bewachsen mit Gras , Gänseblümchen, Löwenzahn und Glockenblumen. An die Füße des hl. Bischofs schmiegen sich zwei Gänse mit "erhobenen" Schwingen, zahm zu seinen Diensten. Aus Anlässen der Gedenkjahre 1909, 1948/49, 1959, 1984 und 1992 wurde immer wieder versucht, sich die Ikonographie des heiligen Liudger, die Darstellungsgeschichte des Gründerbischofs des Bistums Münster nachzuzeichnen, in der sich zugleich die Verehrung des Heiligen widerspiegelt. Am gründlichsten und ausführlichsten taten das Wilhelm Stüwer (1948/49) und Victor H. Elbern (1959, 1992).

Sieben Gestalttypen lassen sich unterscheiden

1. Liudger als jugendlicher Verkünder des Evangeliums in priesterlichem Ornat (ohne bischöfliche Insignien) wie zum Beispiel auf dem Buchdeckel des "Goldenen Evangeliars" von Echternach, 10. Jh.(Nürnberg, Germanisches Museum) , bisweilen auch auf Münzen und Siegeln.

2. Der Typus des Heiligen in vollem bischöflichen Ornat, mit Mitra, Stab und Buch, noch ohne individuelle Attribute, erscheint bereits um 1100, zum Beispiel in dem "Liber Vitae" der Abtei Corvey (Münster, Nordrhein-Westf. Staatsarchiv) oder auf der Stirnseite des Felicitas Schreines (Münster, Domkammer), ähnlich auf Münzen und Siegeln des hohen Mittelalters.

3. Liudger als Gründer der Benediktinerabtei Werden (Essen-Werden) mit dem Modell der Werdener-Klosterkirche in bischöflichem Ornat, etwa seit dem späten Mittelalter, zum Beispiel auf dem Kapitelkreuz der Abtei Werden, 14. Jh.; graviert auf dem Beschlag des so genannten Gürtelreliquiars des Heiligen in der Werdener Schatzkammer vom Ende des 15. Jahrhunderts oder auf einer Miniatur im Psalter des 1502 verstorbenen Fr. Hugenpoet, ebendort; - bei den beiden letzteren erscheint vielleicht das erste Mal das individuelle Attribut des Heiligen, das Gänsemotiv, das auf die folgende Legende zurückzuführen ist: "Einst weilte der ruhmreiche Schutzherr Werdens auf dem Haupthof Welde an der Erft.

Dort trat ein, was ihn in Werden durch Gottes Eingebung geoffenbart worden war.Alsbald stand nämlich der Bauer des Hofes vor dem Gottesmann und klagte: "Ach, Herr, täglich richten die Gänse auf unserem wohlbestellten Acker großen Schaden an. Was ich auch säe, fressen sie sofort auf, selbst die sprießenden Saaten weiden sie ab. Somit fügt uns so Unglücklichen allein dieses Getier beständig großen Schaden zu". "Warum", gab ihm der Diener des Herrn sogleich zur Antwort, "hast du sie nicht zusammengetrieben und eingesperrt, bis sie versprochen hätten, niemals wieder mit ihren Schaden anrichtenden Schnäbeln unsere Habe zu berühren?".

Das hatte er nicht im Ernst, sondern im Scherz gesagt, was jedoch nur ihm bekannt war. Da der Bauer es hörte, lief er stracks davon. Als er die Vögel gefunden hatte, rief er: "Geht, geht weg und lauft zum Bischof!" Wie nun der höchste Herr die Vögel auf Befehl des Bauern zusammentrieb, liefen sie plötzlich davon. Der Bauer folgte, bis die Gänseherde zusammen und in einem engen Hof eingeschlossen war. Schon war auch der Gottesmann dort. Beim Anblick der eingefangenen Gänse segnete er sie zunächst. Als er ihnen Ruhe geboten, belehrte er sie, von ihm hätten sie nichts zu befürchten. Morgen sollten sie sich davonmachen und nie wieder den Acker verwüsten, wofür sie zusammengetrieben und festgesetzt seien. So geschah es, und die Tat hat sich bewährt. Die Gänse befolgen noch immer diese gerechten Weisungen, denn bis heute wagen sie nicht, den Acker zu betreten’.

4. Liudger in vollem bischöflichen Ornat mit dem Modell der Ludgerikirche zu Münster als Bistumsgründer, seit dem 15. Jahrhundert vielfach als Statue in verschiedenen ikonographischen Zusammenhängen, bis in unsere Zeit reichend, zum Beispiel Statue des Bildhauers Bernt Katmann, um 1600 (Münster, St. Paulus-Dom); ähnlich im Chorraum der Ludgerikirche zu Münster (1603) oder auf einem kolorierten Kupferstich von Jan Boel (Amsterdam, um 1620), der im Auftrage des Münsterschen Domdechanten Heidenreich von Lethmate entstanden ist (Münster, West. Landesmuseum).

5. Liudger als Bischof mit dem Modell der alten oder neuen Ludgerikirche zu Billerbeck als Glaubens- und Bistums-Pfleger, besonders auf Denkmälern der späten Neuzeit, überwiegend in der Gegend von Billerbeck.

6. In der Barockzeit kommt es in Münster zu einer ikonologisch wichtigen Differenzierung. Auf den Kalenderblättern des Domkapitels erscheinen der hl. Carolus magnus (Kaiser Karl der Große) als Bistumsgründer (fundavit) und Bischof Liudger als "Bistums-Propagator" (fundavti) und Bischof Liudge rals "Bistums-Propagator" (propagavit) dargestellt, der die Glaubenssaat des hl. Paulus (plantavit) und die Gründung Karls des Großen zu erster Blüte gebracht hat; so auch auf den monumentalen Alabasterreliefs der ehemaligen Chorschranken von 1699/1706 von Johann Mauritz Gröninger (Münster, Domkammer).

7. Etwa seit dem Spätbarock finden sich Darstellungen des hl. Liudger mit pontifikalem Segensgestus, zum Beispiel Reliquienbüste von 1735 in der Sterbekapelle des Heiligen im Billerbecker Dom, besonders im 18./19. Jahrhundert verbreitet. Zu diesem Typus gehört auch die hier vorgestellte Reliquienstatue des Münsterschen Domes von 1880. Die segnende Rechte versinnbildlicht die Kraft des göttlichen Segens, um mit Romano Guardini zu sprechen.Es ist "ein sichtbares Zeichen unsichtbarer Gnade".


Text: Géza Jászai
Fotos: Michael Bönte, Kirche+Leben