Der Elendschristus der Domkammer

Die in Baumberger Sandstein gearbeitete, um 1470/80 zu datierende Skulptur stellt den dornengekrönten und gegeißelten Christus mit dem heute bis auf den Griff fragmentierten Zepter auf einem Steinquader dar. Sein blutiges Haupt trägt eine aus dichtem und regelmäßigem Astgeflecht gebildete Dornenkrone. Lange, lockige Haarsträhnen, die symmetrisch auf Brust und Rücken herabfallen, rahmen den meditativ zur Seite geneigten Kopf. Die lockige Fülle der Haare löst sich bisweilen zu einzelnen Strähnen, die auf Stirn und Wangen aufliegen. Die zusammengezogenen Augenbrauen, die eine Faltenbildung der Stirn hervorrufen, unterstreichen den Eindruck des leidvollen Zustandes.

Dieser wird auf kompositorischer Ebene durch die gleichmäßig auf den Oberschenkeln kraftlos ruhenden Hände unterstrichen. Die leichte Neigung des Hauptes wird durch einen gegenläufigen Bewegungszug des Oberkörpers ausgeglichen. Dem Bildgegenstand der meditativ-erschöpften Gestalt Christi entspricht somit ein gekonntes Ausponderieren der sitzenden Figur, die durch einen feingliedrigen Körperbau charakterisiert ist. Die Haut scheint membranartig den ausgezehrten Brustkorb Christi zu überziehen. Über dem eingezogenen Bauch bildet das Rippensystem des Brustkorbs gleichsam ein transparentes Gerüst der aufrecht sitzenden Gestalt.

Verdeutlichung der Leidenspräsenz Christi

Die farbige Fassung der Skulptur, die im Rahmen einer Restaurierung unter partiellen späteren Übermalungen wieder freigelegt wurde, steht ganz im Dienste einer Verdeutlichung der Leidenspräsenz Christi. Über dem zarten Inkarnat der Figur sind am Kopf und Oberkörper flächendeckend Blutspuren zu finden, die sich besonders auf den Stirnbereich konzentrieren. Die rötliche Färbung des Lendentuchs, das sich zur Rechten Christi in faltigem Fall über dem Steinquader ausbreitet, erinnert ferner an das Passionsblut Christi. die bräunlich-grüne Farbigkeit der Dornenkrone wird hingegen durch die im Relief gearbeiteten Vegetationsformen (Passifloren) links und rechts zu Füßen Christi wieder aufgenommen.

Isoliert, aus dem erzählerischen Gesamtzusammenhang der Leidensgeschichte herausgelöst, zeigt die Skulptur die Einzelgestalt des geschundenen und verspotteten Christus. Dornenkrone, Zepter und die Geißelspuren verweisen auf den biblischen Bericht der Passion. Als Zeichen spöttischer Verachtung haben die Schergen Christus ein Schilfrohr als demütigende Umformung eines Zepters in die Hand gegeben. Der gebrochen niedergewandte Blick streift in der Disposition der Skulptur gerade diesen Gegenstand zynischen Spotts. Zur Steigerung ihrer Suggestivkraft wurde vergleichbaren Bildwerken bisweilen ein wirkliches Rutenbündel oder Schilfrohr beigegeben, die jedoch in der Regel nicht erhalten blieben. Auch die herunterhängenden Haarsträhnen des Hauptes Christi stellen den gleichartigen Versuch einer realitätsnahen Vergegenwärtigung seines Leidens dar.

In der Skulptur verdichten sich verschiedene Einzelmomente der biblischen Passionsberichte. Hierbei kommt es zu einer Bildlösung, die in Einzelmotiven dem Zeugnis der Evangelien zuwiderläuft. So berichten Matthäus, Markus und Johannes übereinstimmend, dass die Soldaten Christus einen Purpurmantel über die Schulter legten, bevor sie ihm die aus Dornen geflochtene Krone auf das Haupt setzten. Von dieser Bildregie weicht die vorliegende Skulptur offensichtlich ganz bewusst ab. Ferner fällt auf, dass die Pflanzen zu Füßen Christi nicht mit der bei den Synoptikern übereinstimmenden Ortsbezeichnung der Geißelung, Dornenkrönung und Verspottung in Einklang zu bringen sind, die ausdrücklich das "Praetorium" nennen.

"Christus im Elend"

Die Kunstgeschichte hat den Bildtypus des trauernden und sitzenden, durch die Merkmale seiner Passion charakterisierten Erlösers mit dem Begriff des "Christus im Elend" belegt. Der Darstellungstypus des "Elendschristus" ist motivisch eng dem so genannten "Christus in der Rast" verwandt. Die meditativ-trauernde Gestalt Christi ist hier auf dem für die Kreuzigung bereiteten Kreuzesbalken oder einem Steinquader gegeben, wobei Schädel- und Knochenfragmente auf den Skulpturensockeln den topografischen Verweis auf Golgatha liefern. Die Tafelmalerei des ausgehenden 14. und frühen 15. Jahrhunderts kennt im Rahmen von Passionszyklen bereits diese episodische Erweiterung des Leidensweges Christi, wie es beispielsweise die so genannte "Goldene Tafel", ein um 1420 entstandener Wandelaltar in der Landesgalerie in Hannover belegt. Der französische Kunsthistoriker Emile Male prägte für diesen Bildtypus den klassifikatorischen Sammelbegriff des "Le Christ en attendant sa mort sur le calvaire" (Christus, der auf dem Kalvarienberg auf seinen Tod wartet).

Dieser Terminus illustriert mustergültig den Versuch, solche und ähnliche Bildwerke als klar zu identifizierende Stationen des Leidensweges Christi bestimmen zu wollen. Vergleichbare "Andachtsbilder" folgen jedoch nicht einer Text gebundenen Bildlogik, indem sie in der Regel keinen exakt bestimmbaren Moment der biblischen Historie illustrieren, und sich somit oftmals einem zeitlich-rationalen Zugriff verschließen.

Die sich in der Münsteraner Skulptur wie auch in zahlreichen anderen Bildwerken der Zeit verdichtende Tendenz einer freien Kombinatorik von Passionsmotiven und -phasen scheint gerade diesem Bestreben zuwider zu laufen. Einer solchen Erkenntnis kommt keineswegs eine ausgesprochene Aktualität zu.

"Kein Beleg in der Heiligen Schrift"

Bereits Johannes Molanus wies in seiner 1570 in Löwen veröffentlichten Schrift mit dem Titel "De historia SS.Imaginum et Pictuarum" auf die Häufigkeit von Darstellungen des auf einem Stein isoliert sitzenden Christus in Kirchen hin. Der Autor machte ferner auf den Umstand aufmerksam, dass diese Skulpturen sich nicht auf eine bestimmbare Passage der Bibel bezögen, indem er ausführte: "Das Bild des auf einem Stein sitzenden Christus… das häufig in Kirchen anzutreffen ist, besitzt keinen Beleg in der Heiligen Schrift". In dieser Tendenz steht das Bildthema des "Christus im Elend" keineswegs isoliert da. Auch die so genannten "Christus-Johannes-Gruppen" sind als interpretierende Erweiterung bzw. Ausgestaltung des biblischen Berichts zu werten und ähnlich wie die vereinzelte Christusgestalt aus dem biblischen Erzählzusammenhang herausgelöst. Mit der neuzeitlichen Wortschöpfung des "Andachtsbildes" werden beide Bildthemen in ihrer Eigenart umschrieben, dem Betrachtenden die Möglichkeit zu einer kontemplativen Versenkung in den Bildgegenstand zu geben. Mustergültig scheint diese Bildfunktion folgende Passage des von Jörg Wickram 1555 verfassten "Rollwagenbüchleins" zu illustrieren. Von einem Wanderer, der an einem am Wegesrand befindlichen Kruzifix vorbeikommt heißt es hier: "stuond also ein wenig still, den herrgott anzuoschauwen, sein ellend und verlust zuo betrachten".

Der Bildtypus des "Elendschristus" , der sich punktuell im ausgehenden 14. Jahrhundert nachweisen lässt und im Laufe des 15. Jahrhunderts große geografische Verbreitung findet, die sich von Burgund bis nach Polen erstreckt, steht ohne Zweifel in Zusammenhang zu epochentypischen Gebets- und Andachtsformen. Es handelt sich um eine verinnerlichte, insbesondere für den Laienstand bestimmte Frömmigkeit, eine gefühlsbetonte Teilhabe am Leiden Christi. Nikolaus von Kues (1401-1464) verkündet in dieser Zeit das Prinzip der "docta ignorantia", der gelehrten Unkenntnis, die gegenüber dem berufsmäßigen Theologen dem Laien einen priviligierten Status in seiner unmittelbaren und stark gefühlsgetragenen Anteilnahme am Heilsgeschehen einräumt. Ziel der Gebets- und Meditationsübungen ist die "imitatio Christi", die Nachfolge Christi, die sich in erster Linie durch das Mitleiden seiner Leidensgeschichte, der so genannten "compassio" vollziehe.

"Betrachtung meines Leidens"

So führt der Mystiker Johannes von Tauler (um 1300-1361) diesbezüglich aus: "… in Wahrheit gibt es keinen leichteren, sichereren und besseren Weg, von den Sünden entledigt zu werden und alle Gnade, Tugend und Seligkeit zu überkommen, als die Übung und Betrachtung meines Leidens." Sein Zeitgenosse Heinrich Seuse (um 1295-1366) hingegen preist die intensive Betrachtung des Leidens Christi, sie "… machet us einem einveltigen menschen einen hohen kunstrichen meister." Das theologisch propagierte Mit-leiden wird durch die zahlreichen Passionstraktate und Gebetsübungen befördert, die detailreich und weit über die Berichte der Evangelisten hinausgehend die körperlichen Peinigungen und Erniedrigungen Christi schildern. Das historische Geschehen soll hierbei vergegenwärtigt werden, die Passion soll sich in der verinnerlichten Schau des Meditierenden neu vollziehen, wie es Gerhard Groote (1340-1384), der eigentliche Begründer der "Devotio moderna", der skízzierten neuartigen Form gefühlsgetragener Laienfrömmigkeit, ausführt. Bei diesem, von der Einbildungskraft des Meditierenden getragenen Vergegenwärtigung des Leidens Christi können nach Auskunft der zeitgenössischen Theologen Bildwerke von Nutzen sein. So führt der genannte Groote aus, hölzerne Skulpturen seien der Andacht durchaus zuträglich.

Die "Vita" Heinrich Seuses beinhaltet ferner einen eindrucksvollen Beleg für die gefühlsmäßige Suggestivkraft von Bildern als Begleiter der Passionsandacht. Im 42. Kapitel schildert Seuse hier seine Mutter als "biterlich von herzklichem mitlidene". Sie besucht das Münster und vertieft sich in die Betrachtung eines Altarbildes mit der Darstellung der Kreuzabnahme. Das Nachempfinden und Mitleiden des "erbermde"-Schmerzes Mariens lässt sie in eine tiefe Ohnmacht fallen, aus der sie nicht erwacht. Sie verstirbt am Karfreitag zur Zeit der Non. Diese Schilderung zielt nicht nur auf die der Schrift überlegene Kraft der Kunstwerke ab, wie sie bereits bei den Kirchenvätern zur Rechtfertigung des christlichen Bildkults angeführt wurde. Im Leiden und Sterben von Seuses Mutter verdichtet sich ferner die theologisch propagierte Angleichung an die Leidensgeschichte Christi, die sich im Zeitpunkt ihres Todes verdeutlicht.

Diesen Zusammenhang fasst Ludolf von Sachsen (gest. 1377) begrifflich im "actus conformationis", einer Einswerdung mit Christus in seiner Passion. So solle sich der Meditierende selbst Backenstreiche versetzen, um die Demütigungen und Erniedrigungen Christi auf dem Kreuzweg konkret körperlich nachzuvollziehen. Ferner ergeht in den "Meditationes vitae Christi" als einflussreichstem Passionstraktat des 13. Jahrhunderts an den Gläubigen der Rat, sich Christus in den ruhigen Momenten zwischen den einzelnen Phasen der Passion vorzustellen. Gerade dieses Innehalten, das Ausklammern jeglicher Handlung, die lediglich durch die Leidenswerkzeuge impliziert wird, erscheint als Charakteristikum der Münsteraner Skulptur und vergleichbarer "Andachtsbilder".

Von Wunden übersäter Körper

Auch die biblisch nicht motivierte Nacktheit Christi, die dem Betrachter den Anblick des von Wunden übersäten Körpers anschaulich vor Augen führt, lässt sich zumindest tendenziell auf den Einfluss der Passionstraktate zurückführen. So bezieht Johannes de Caulibus, der vermeintliche Verfasser der "Meditationes" die bei Johannes 18, 18 zu findende Erwähnung "es war kalt" während der Geißelung auf die greifbare Befindlichkeit Christi und führt aus, er habe vor Kälte gezittert. Ferner werden hier die aus dem biblischen Bericht der Synoptiker nur indirekt abzuleitenden körperlichen Schmerzen Christi sinnenhaft nachvollziehbar geschildert. Der die Skulptur kennzeichnende Verzicht auf den Purpurmantel als Attribut der Verspottung Christi erscheint vor diesem Hintergrund somit durchaus legitim, indem er der meditierenden Versenkung und kontemplativen Betrachtung des Leidens Christi zuträglich ist.

Auch die bildnerisch akzentuierte Auszehrung des Körpers Christi findet eine Entsprechung in den zahlreichen, im 15. Jahrhundert florierenden Passionstraktaten. So schildert der Augustiner-Eremit Johannes von Paltz (1445-1511) im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, also zeitgleich zur vermeintlichen Entstehungszeit der Skulptur, minutiös und weit über den biblischen Bericht hinausgehend die verschiedenen Stadien der Geißelung Christi. Die Schergen hätten mit ihren verschiedengestaltigen Marterinstrumenten den Körper des Erlösers so gepeinigt, dass man stellenweise die Knochen sehen konnte (…ita quod ossa poterant videri). Die Nacktheit Christi, die demonstrative Zurschaustellung seines von Wunden übersäten Körpers sind ferner mit dem typologischen Bilddenken in Verbindung zu bringen. Diese in Entsprechungen zwischen Altem und Neuem Testament verfahrende theologische Konzeption setzt traditionsgemäß Jesaja 1,6 (… von der Fußsohle bis zum Haupt ist an ihm nichts Heiles) in Bezug zur Geißelung Christi. Das in Jesaja 53,4 erwähnte "quasi leprosus" wurde gleichfalls auf den von Wundmalen übersäten Körper Christi bezogen.

Hiob auf dem Misthaufen

Jeremias Klagelieder, die von mittelalterlichen Theologen als Vorausdeutung auf die Passion Christi gewertet wurden, lieferten eine motivische Quelle für die isolierte, meditativ in sich versunkene Figur des gepeinigten und geschundenen Erlösers, wenn es dort heißt: Er sitze einsam und schweige, wenn der Herr es ihm auferlegt. Die als formales Prinzip der "Andachtsbilder" beschriebene Herauslösung einer Gestalt oder Figurengruppe aus biblischen Erzählzusammenhängen, die die Skulptur anschaulich verdeutlicht, findet somit eine zusätzliche Erklärung im typologischen Bilddenken des Mittelalters. Diesem Analogiedenken zwischen dem Alten und Neuen Testament entspricht auch die inhaltliche und formale Angleichung des "Elendschristus" mit der Gestalt Hiobs, der als mustergültiges Idealbild der Demut und Geduld galt. Die bereits in der Buchmalerei und Skulpturen ab dem 12. Jahrhundert nachzuweisende trauernd-meditative Sitzhaltung Hiobs auf dem Misthaufen, der sein Haupt in resignierender Haltung wegen der ihm auferlegten Schicksalsprüfungen in der aufgestützten Rechten hält, war vielfach Form prägend für die Skulpturen Christi.

Die psychische Situation des Erlösers während der Martern, die "desolatio Christi" wie sie die zeitgenössische spätmittelalterliche Theologie nennt, wird in der Regel durch den traditionellen "cognitas"-Gestus, die grüblerisch an die Wange geführte Hand motivisch verdeutlicht. Diese bereits im frühen 13. Jahrhundert zu einem ikonographischen Allgemeinplatz gewordene Haltung wird von Walther von der Vogelweide in folgenden bekannten Versen als Sinnbild dichterischer Reflexion beschrieben: "Ich saz uf einem steine, und dahte bein mit bein, dar uf satz ich den ellenbogen, ich hete in mine hant gesmogen, daz kinne und ein min wange, do dahte ich mir vil ange, wie man zer welte solte leben." Die zahlreichen Passionstraktate, allen voran die "Meditationes" fordern den Gläubigen dazu auf, sich nicht nur in die körperliche, sondern insbesondere in die seelische Verfassung Christi während der Pausen zwischen den Martern hineinzuversetzen.

Keine Resignation

Die Skulptur der Domkammer in Münster verzichtet gerade im Gegensatz zu einer Vielzahl zeitgenössischer Skulpturen des "Christus im Elend" auf den standardisierten Gestus der Trauer und Resignation, wie sie für die alttestamentarische Gestalt Hiobs ikonographisch vorgeprägt war. Lediglich mimisch leicht durch die zusammengezogenen Augenbrauen die Erschöpfung und Anstrengung andeutend wird der gesenkte Blick Christi über das Zepter als Objekt seiner Demütigung und Erniedrigung geführt. In der meditativen Vergegenwärtigung der Passion, im Akt der "compassio", des Mit-leidens wird somit in der Skulptur ein bedeutsamer Moment der Erniedrigung Christi gewählt, in der nach Johannes Tauler gerade die größte Erhöhung und Würde zu finden ist: "ie tieffer, ie höher; wan hoch und tief ist do ein." Die Funktion der meditativen Versenkung in den Bildgegenstand, den die von der Kunstgeschichte mit dem Etikett des "Andachtsbildes" versehenen Bildwerke in der Regel nur vermuten lassen, wird bisweilen bei vergleichbaren Skulpturen durch Inschriften evident. So weist ein "Elendschristus" in Venisy (Yonne), der etwa zeitgleich mit der Münsteraner Skulptur zu datieren ist, eine lateinische Inschrift auf dem Sockel auf, die den leidenden Christus gleichsam in einen Dialog zum Betrachter treten lässt: "Niemand wird an meinem Himmelreich teilhaftig, wenn er nicht zuvor mein Kreuz auf sich genommen hat. Halte ein, erinnere Dich, weine, der Du vorbeigehst: für Dich trage ich nackt und verspottet eine Dornenkrone." (Par tricipem nullum regni facio esse beati, si non et consors sit crucis ille mea. Sta, memora, defle qui transis hac quia pro te nudus et illusus spina serta gero.)

Während der erste Satz der Inschrift die Aufforderung zur Nachfolge Christi beinhaltet, macht der folgende die skizzierten Zusammenhänge mit Blick auf die Funktion des "Andachtsbildes" deutlich. Die Sockelinschrift lässt sich in drei didaktische Schritte strukturieren: Am Anfang steht die an den vorbeigehenden Kirchenbesucher ergehende Aufforderung innezuhalten (sta). Es folgt die durch die Skulptur getragene Erinnerung der Peinigungen und Verspottungen Christi (memora). Am Ende steht die "compassio", das Mit-leiden und beweinen (defle). Die Skulptur der Münsteraner Domkammer lässt sich vor dem Hintergrund dieser Ausführungen allgemein in den historischen Zusammenhang plastischer "Andachtsbilder" stellen. Ihr künstlerischer Stellenwert liegt in einer recht freien Behandlung des Bildthemas des "Elendschristus", die nicht auf motivische Konstanten und Standardformulierungen wie beispielsweise den "cognitas"-Gestus zurückgreift.

Dem Betrachter wird hierdurch ein imaginativer Freiraum zugebilligt, sich in die geistige Befindlichkeit des gedemütigten und geschundenen Christus zu versetzen, wie es die reiche Passionsliteratur ihrer Entstehungsepoche propagiert.
 

Text: Markus Müller
aus dem Buch "Der Dom zu Münster und seine Kunstschätze"