Schmückende Glas- oder Edelsteine?
Diese Bemerkung ist soweit von Belang, da ich nicht ganz davon überzeugt bin, ob die "Neuschöpfungen" der Balkenenden als achtblättrige Rosetten dem ursprünglichen Zustand entsprechen. Man könnte hier auch Vierpässe mit figürlichen Darstellungen vorstellen, wofür mehrere Analogien aus dem 12./13. Jahrhundert nachzuweisen sind. Das Haupt des Gekreuzigten (im Gegensatz zum Volto-Santo-Typus von Lucca) trug ursprünglich, um nochmals zu betonen, eine hölzerne oder metallene Krone, dafür sprechen eindeutig die glatten Schädelpartien unter der einst vorhandenen Krone und die originalen Befestigungsspuren.
Ob das Haupt Christi ursprünglich auch noch mit einem Kreuznimbus ausgezeichnet war, lässt sich nicht mehr eindeutig feststellen. Dazu gibt es ebenfalls hinreichend Analogien. Das lange Ärmelgewand wird von einem gezaddelten Gürtel in Hüfthöhe zusammengeschnürt. Die alten Zustandsfotos zeigen noch die beiden an der Knotung bandartig herunterhängenden Enden des Gürtels. Das rechte kürzere Band wurde bei der Restaurierung leider abgearbeitet. Kreuz und Korpus waren ursprünglich voll farbig gefasst. Die am Halskragen des Ärmelgewandes in Erscheinung tretenden runden Vertiefungen dienten zusätzlich wohl für schmückende Glas- oder Edelsteine, oder für ihre Imitationen durch Farbe. So weit in Kürze zur gedanklichen Wiederherstellung des originalen Zustandes.
Die Gestalt des gekreuzigten Christus erscheint hier in hieratischer Symmetrie. Kopf, Rumpf, Beine und Füße sind vertikal gerichtet, die Arme wagrecht ausgebreitet. Den Körper bedeckt eine lange, durch rillenförmige Parallelfalten gegliederte Ärmeltunika. Die Füße auf dem Suppedaneum sind nicht genagelt. Die Nägel in den offenen Handtellern sind als "Attribute des Gekreuzigtseins" (R. Hausherr) zu betrachten. Die offenen Augen des ernsten bärtigen Hauptes sind zum Betrachter gerichtet. Diese Darstellung Christi geht auf die "Geheime Offenbarung" Johannes des Evangelisten zurück.
Eschatologischer Gedankengehalt
Der Seher von Patmos sah "einen, der einem Menschensohn ähnlich war, bekleidet in einem Poderes und die Brust umgürtet mit einem goldenen Gürtel" - "similem Filio hominis, vestitum podere, et praecinctum ad mamillas zona aurea" (Apk 1,13). Kreuz und Korpus weisen eindeutig auf den eschatologischen Gedankengehalt hin: Das mit Rosetten wie mit Edelsteinen und mit treibarbeitartigen Rillenbändern geschmückte Kreuz, die Imitation des Edelsteinbesatzes des hohepriesterlichen Gewandes am Halskragen und Brust, zusammen mit der ursprünglich vorhandenen "Krone des Himmels", veranschaulichen den zum Gericht wiederkehrenden Erlöser.
Die Krone und das Ärmelgewand, die tunica manicata, wie die priesterliche Albe, weisen symbolisch auf das göttliche Leidbild hin, auf den Christus triumpham, der zugleich König und Priester ist (Rex et Sacerdos), König des Himmels und ewiger Hohepriester "nach der Priesterordnung des Melchisedek" (Hebräerbrief 7,1 -28). Sein Kreuz ist gleichermaßen Zeichen der Passion und Unterpfand des Heiles, Zeichen der Parusie (Mt 24.30). Der Gürtel (cingulum) seines Gewandes mahnt symbolisch auch zur Enthaltsamkeit, wie Johannes sagt: "gürtet sich Jesus selbst den Sklavengurt um" (Joh 13,4f.).
So dachte zum Beispiel auch Petrus Damiani um die Mitte des 11. Jahrhunderts, Ambrosius von Mailand gefolgt: Der Gürtel ist Mahnung zur Enthaltsamkeit für alle Kleriker, "die dazu bestimmt sind, den Namen Gottes, sein Lob und seinen Ruhm zu verkündigen" (PL 145, S. 491 ff.). Bereits Augustinus hat auf ähnliche Sinngehalte hingewiesen in seiner "Auslegung zu Psalm 132" (Enarrationes in psalm um): "Der Bart gilt als Synonym für die Apostel. Die offenen Augen beziehen sich auf die Kleriker, die die allen übergeordneten Augen der Kirche verkörpern. Das priesterliche Gewand bezeichnet die Kirche und der Gürtel stellt den Stand der Kleriker dar" (Lit. 15).