Bibelarbeit: Das Bild des unsichtbaren Gottes

1. Zugang:

Es kann mitunter hilfreich sein, wenn man einen Einblick gewährt bekommt. Ein Einblick zum Beispiel beim Doppelkopfspielen in die Karten seiner Mitspieler, würde - bei allem, was anrüchig daran sein mag - die eigene Spielsituation erheblich begünstigen. Ein Einblick, via Schufa, ins Konto seiner Kunden hat schon so manchen Kaufmann davor bewahrt, die Ware einem "Pleitegeier" zu übergeben. Und wenn ein Journalist einen Einblick hinter die Kulissen der Politik erhascht, wird seine Zeitung erst so richtig interessant.

Auch der neutestamentliche Brief an die Kolosser gewährt seinen Hörern und Lesern einen Einblick, und zwar in die Wirklichkeit des Gottessohnes Jesus Christus. Der Brief wirbt dafür, zu begreifen, dass in ihm nicht einfach nur ein wichtiger Mensch und ein ethisches Vorbild auf den Plan getreten ist, sondern tatsächlich der Messias, Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.

Aber so leicht das hier gesagt sein mag, so schwer ist es getan. Schon damals, zu Lebzeiten Jesu, taten sich die Menschen schwer damit. Das Evangelium überliefert uns eine Szene, als Jesus in seine Heimat kommt (Mt 13, 54-58). Die Leute dort sagen: "Was, das soll der Messias sein, der Gesalbte des Herrn? Wir kennen doch seine Mutter. Und seine Verwandten laufen alle hier bei uns im Dorf rum. Da kommt der und will der Gesalbte Gottes sein?" Und die Leute - resümiert das Evangelium schlicht und einfach - hatten keinen Glauben.

In Jesus den Sohn des lebendigen Gottes, den Christus, zu erkennen, zählt nicht zu den einfachsten Übungen des Glaubens. Vielleicht ist es ein Symptom der Glaubenskrise unserer Tage, dass wir Christen irgendwann begonnen haben, schlichtweg zu klein von Jesus Christus zu denken und dann auch zu reden. Wir haben angefangen, im Glauben "einen Gang zurückzuschalten" und die Rede vom "Bruder Jesus" zu prägen. Was sich bei uns zunehmend etabliert hat, ist eine Art "Jesulogie" im Unterschied zu einer fundierten Christologie, wie sie die Kirche des Anfangs mit einigem Erfolg betrieben hat. Soll heißen: Wir konzentrieren uns - zumeist in bester Absicht und mit lauteren Motiven - verstärkt auf Jesus, den guten Menschen, den netten Bruder - und stehen dabei in der Gefahr, den Blick auf Jesus, den Christus, den Sohn Gottes, zu verkürzen, der aus Gottes Herrlichkeit heraus als Angelpunkt die Welt im Innersten zusammenhält. Bei allem, was gut und richtig an einer Jesulogie sein mag, kann es leicht passieren, dass wir den Mann aus Nazareth verkennen, dass wir ihn und seine Botschaft banalisieren, ihn um seine Kraft bringen und dann nicht mehr wirklich zur Geltung kommen lassen.

Drei kurze Beispiele:

  • Natürlich kann (und muss) ich in Jesus ein Vorbild im Umgang mit Menschen sehen. Aber wo er für mich nur noch ein ethisches Vorbild ist, und ich in ihm nicht mehr den erkenne, der uns Menschen mit göttlicher Liebe unendlich liebt, einer Liebe, die sogar den Tod besiegt, da bleibe ich in den engen Grenzen meiner Lebenszeit gefangen.
  • Natürlich kann ich in Jesus den erblicken, dessen Worte und Taten in mir Lebenskraft und Energiepotentiale wecken, weil ich schlichtweg fasziniert bin von seiner Sprache. Aber wo ich aufhöre, sein Wort als Richtschnur und Weisung zum Leben zu verstehen, da verpufft einfachhin das, was das Evangelium "Worte ewigen Lebens" nennt.
  • Natürlich kann ich in Jesus den Bruder der Menschen erkennen, der hilft, innere Grenzen zu überwinden. Wo ich in ihm indes nur noch den Initialzünder erblicke, der mich motiviert so oder so zu denken und zu handeln; ich aber nicht eigentlich mehr in meinem Leben mit ihm rechne, dass er da ist, dass er hilft, dass er zur Seite steht: da versandet mein Glaube in emotionaler Weltanschauung, und ich verabschiede mich von der Vorstellung eines persönlichen Gottes, der ein Du sein will, ein Gegenüber.


Noch einmal: In Jesus den Sohn des lebendigen Gottes, den Christus zu erkennen, zählt nicht zu den einfachsten Übungen des Glaubens. Aber sicher zu den wichtigsten. Denn es geht um uns. Im Letzten um die Frage, was ich Mensch denn eigentlich von Gott erwarten und erhoffen darf. Der Kolosserbrief stellt sich mit seinem Christushymnus dieser Frage.

2. Einleitungsfragen

Kol 1,1 stellt den Apostel Paulus und seinen Mitarbeiter Timotheus als Verfasser und Absender vor. Diverse Stil- und Spracheigenheiten des Schreibens, vor allem aber seine eigenen, die theologische Gedankenwelt des Apostels zwar aufgreifenden, aber zugleich weiterführenden theologischen Akzente lassen die moderne Bibelwissenschaft an der paulinischen Urheberschaft zweifeln. Es scheint vielmehr so zu sein, dass es ein Schüler des Paulus war, der den Christen in Kolossä diesen Brief in der Autorität seines Lehrers zukommen ließ. Dabei übernahm er nicht nur die formale Struktur der paulinischen Briefe (auffällig sind z.B. die fast wörtlichen Übereinstimmungen des Briefanfanges Kol 1,1f. mit 2 Kor 1,1f., die durch den Römer- und Galaterbrief vorgeprägte Zweiteilung des Schreibens in einen zunächst lehrhaften und dann ethisch orientierten Hauptteil oder die an den Philemonbrief erinnernde Grußliste des Kol), sondern auch theologische Grundaxiome des Apostels (vgl. etwa Kol 2,12 mit Röm 6,4; Kol 2,20 mit Gal 4, 3.9 oder die Verwendung der paulinischen Trias von Glaube, Hoffnung, Liebe in Kol 1,4f.). Auf diese Weise kann der Verfasser des Kolosserbriefes seine Position stärken und unter dem Anspruch apostolischer Vollmacht und Autorität das Wort ergreifen.

Der Kolosserbrief macht keine Angaben über den Ort seiner Entstehung. Mit Blick auf die erwähnten Städte Kolossä (Kol 1,2), Laodicea (Kol 2,1; 4,13.15.16) und Hierapolis (Kol 4,13) vermuten nicht wenige Exegeten unter diesen Zentren den Entstehungsort des Briefes. Doch auch Ephesus kommt als (wahrscheinlicher) Sitz der Paulusschule in Betracht. Größere Sicherheit gewinnt, wer auf spekulative Festlegungen verzichtet und allgemeiner den Südwesten Kleinasiens als Entstehungsraum benennt.

Insofern der Kolosserbrief der Form und dem theologischen Inhalt nach den Briefen des Apostels Paulus sehr nahe steht, wird man von einer Entstehungszeit um 70 n.Chr. ausgehen dürfen. Adressaten des Briefes sind überwiegend Heidenchristen hellenistischer Provenienz, aber auch Judenchristen (vgl. Kol 2,11.16), die in der kleinasiatischen Region leben. Gründer dieser christlichen Gemeinden war nicht Paulus, sondern nach Kol 1,7 ein gewisser Epaphras.

Der Verfasser des Schreibens entfaltet seine theologischen Gedanken vor dem Hintergrund einer konfliktreichen Auseinandersetzung mit gnostischer Philosophie (vgl. Kol 2,8). Verband diese die christliche Vorstellung des Glaubens mit der eines Dienstes gegenüber eher unbestimmten Himmelsmächten, betont der Kolosserbrief in scharfer Abgrenzung davon die Einmaligkeit der von Gott in Jesus Christus grundgelegten Fülle des Heils. Die sich in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi manifestierende Liebesmacht Gottes wird den Glaubenden als die einzige, Welt und Kosmos umfassende Macht vor Augen geführt. Der Christushymnus (Kol 1,15-20) wirkt vor diesem Hintergrund wie eine Ouvertüre. In hymnischer Weise erfolgt die Ansage jener christologischen Grundparadigmen, die nicht allein für den Fortgang der theologischen Argumentation des Kolosserbriefes, sondern für den christlichen Glauben als solchen bestimmend sind.

3. Der Christushymnus Kol 1, 15-20

V15:
Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene aller Schöpfung.

V16:
Denn in ihm wurde erschaffen das Allsamt:
in den Himmeln und auf der Erde,
das Sichtbare und das Unsichtbare.
Ob Throne, ob Herrenwürden,
ob Mächte, ob Vollmachten:
das Allsamt ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen.

V17:
Und er ist vor allen
und das Allsamt ist in ihm zusammengehalten.

V18:
Er ist der Kopf des Leibes: der Kirche.
Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten,
auf dass unter allen er der Erste würde.

V19:
Denn es hat der Allfülle Gottes gefallen,
in ihm zu wohnen,

V20:
und durch ihn zu versöhnen das Allsamt - auf ihn zu,
indem er Frieden schaffte durch das Blut seines Kreuzes:
sei es dem, was auf der Erde,
sei es dem, was in den Himmeln - durch ihn.

(Übersetzung nach F. Stier)

Innerhalb des paränetischen, d.h. lehrhaften Hauptteils (Kol 1, 15 - 2, 23) stellt der Christushymnus die theologische Basis der gesamten Argumentation dar. Der Verfasser des Kolosserbriefes findet ihn bereits vor und greift ihn nun im Zuge seines Schreibens auf, um seine eigenen theologischen Akzente von hier aus verstehbar werden zu lassen.

Der Hymnus gliedert sich formal und inhaltlich in zwei Strophen. Insbesondere die (griechische) sprachliche Parallele "Er ist das Ebenbild" V15 und "Er ist der Ursprung" V18b markiert die Eröffnung einer neuen Reihe. Nimmt die erste Strophe (V. 15-18a) die kosmologische Dimension des Christusereignisses in den Blick, widmet sich die zweite Strophe (V. 18b-20) seiner soteriologischen, d.h. heilsbedeutsamen Entfaltung.

Der Hymnus umschreibt Jesus Christus mit einer Vielzahl von Prädikationen: Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene, das Haupt und der Anfang. Die vielen Namen eines Wesens zeugen in der griechischen Antike von seiner Größe (im Zeushymnus des Kleanthes (537) wird Gottkönig Zeus als der "vielnamige Herrscher des Weltalls" bezeichnet). Wenn Kol 1,15 Jesus Christus als das "Bild" des unsichtbaren Gottes tituliert, darf darin eine Anspielung auf die in Gen 1,26 proklamierte Gottebenbildlichkeit des Menschen gesehen werden, durch die Christus jetzt als der "neue Mensch" bzw. der "neue Adam" vorgestellt werden kann. In ihm sind sowohl das Verkauftsein des alten Menschen unter die Unheilsmacht der Sünde als auch seine Todverfallenheit aufgehoben und überwunden.

Dem hellenistischen Geist eröffnet sich eine weitere Perspektive. Der griechische Philosoph Plato bezeichnet die sichtbare Welt als "Abbild des geistigen (Gottes)"; sie ist ein "sichtbarer Gott" (vgl. Timaios 92c). Plato definiert die geschaffene Welt: Alles Sicht- und sinnlich Wahrnehmbare ist das schattenartige Abbild einer höheren Welt der Ideen. Philo von Alexandrien, wohl der bedeutendste Autor des hellenistischen Judentums, greift diese platonische Weltsicht später behutsam auf und entwickelt daraus seine Logoslehre, die die platonische Urbild-Abbild-Struktur auf den biblischen Schöpfungsglauben überträgt. Nicht mehr die geschaffene Welt, sondern der Logos als die Zusammenfassung der Ideen ist für ihn Bild Gottes. Wie ein zweiter Gott steht dieser Logos, den Philo "Anfang" und "Bild" nennt (leg.all. I 43), der Welt gegenüber, mehr noch: Sie ist nach seinem Bild geschaffen, er hat ihr die Schöpfung vermittelt. Dadurch erscheint die Welt als Abbild eines Abbildes. Philo nähert sich nicht ohne Geschick antikem griechischen Denken an. Er erklärt die Welt vor dem Hintergrund hellenistischer Plausibilitäten und schafft zugleich eine Annäherung an den biblischen Schöpfergott. Denn das (von griechischem Denken stark geprägte) biblische Buch der Weisheit stellt die "Weisheit" an die Seite Gottes: Sie ist "Abglanz ewigen Lichtes, ungetrübter Spiegel seines Wirkens und Abbild göttlicher Vollkommenheit" (vgl. Weish 7,26). Zwar an Gottes statt stehend, aber dennoch nicht von ihm unterschieden, war sie geheimnisvoll mit ihm am Werk bei der Erschaffung der Welt (Spr 8, 22-31). Im Unterschied zum philonischen Logos gibt es für die Weisheit keine Abbilder in der Welt: Sie ist allein von Gott her offenbar. So kommt die weisheitliche Gedankenwelt der des Christushymnus Kol 1, 15-20 sehr nahe.
Bibelarbeiten

Jesus, der Sohn des lebendigen Gottes.

In Christus, dem Abbild, manifestiert sich die Schöpfermacht Gottes in der Welt. Im Vordergrund dieser Aussage steht das christologische Interesse des Kolosserbriefes. Das Abbild bleibt also nicht im platonischen Sinne qualitativ hinter dem Urbild zurück, es wird auch nicht im philonischen Sinne zum Urbild für die geschaffene Welt, sondern gehört in die Sphäre Gottes hinein. In Christus ist Gott zugegen. Abbild ist Christus, insofern sich in ihm und durch ihn die schöpferische Wirkmacht Gottes in der Welt zur Geltung bringt.

Die zweite Prädikation, die Christus zugesprochen wird, ist die des "Erstgeborenen aller Schöpfung". Der Begriff "Erstgeborener" ist ein juridischer. Im Alten Testament kommt ihm das Erstgeburtsrecht zu. Im übertragenen Sinn werden sowohl das Volk (Ex 4,22f; Sir 36; Jer 31,9) als auch der König (Ps 89,28) "Erstgeborene" genannt und so das liebevolle Ausgewähltsein von Gott her betont. Doch mehr noch als an der besonderen Beziehung des erwählten Erstgeborenen zu Gott ist der Christushymnus des Kolosserbriefes an der Verwiesenheit der Schöpfung auf den Erstgeborenen interessiert. In ihm, durch ihn und auf ihn hin wurde das All erschaffen (V16). Die Prädikation "Erstgeborener der Schöpfung" markiert sowohl die im Willen Gottes gründende, vor aller Zeit beschlossene Erwählung Christi als auch seine alle Schöpfung überragende Macht.

V17 bestätigt dies. Wenn es dort heißt, Christus sei "vor aller Schöpfung", klingt damit zwar wiederum der Gedanke der Präexistenz des Logos Christus an, das zeitliche Prae versteht sich hier jedoch im Sinne einer Vor- bzw. Überordnung. Christus ist es, der dem All, also allem, was ist, Bestand verleiht. Er ist nicht nur Schöpfungsmittler, sondern auch Schöpfungserhalter.

V18 nennt Christus das "Haupt des Leibes" und unterstreicht mittels dieser Prädikation erneut die tragende Rolle Christi im kosmologischen Ganzen. Die Vorstellung eines beseelten, organismus-, ja sogar leibartigen Kosmos findet nicht nur in der griechischen Philosophie (hier v.a. bei Plato, in der Orphik und in der Stoa), sondern auch im hellenistischen Judentum breite Aufnahme (vgl. Philo, Quaest. In Ex. 2, 117; lib.all. 3, 175). In der Perspektive des Kolosserbriefes ist Christus als Haupt des Leibes Herr und Hirte der Kirche. Die unmittelbare Nähe des Kolosserbriefes zum paulinischen Kirchenverständnis als Leib des Hauptes Christus (vgl. Röm 12,4f.; 1 Kor 12,13ff; 10,17; 1,13) ist unverkennbar. In den Blick kommt die Gemeinschaft der Glaubenden, die sich unter ihrem Haupt Christus versammelt und zugleich Richtung und Sinn erfährt. Die Kirche ist der Ort, in der die Weltherrschaft Christi schon jetzt wirkmächtig erfahrbar wird. Ihr Auftrag ist es aber, alle Menschen durch die Verkündigung des Evangeliums für Christus zu gewinnen.

Die zweite Strophe des Hymnus hebt mit einer weiteren Reihe von Christusprädikationen an: Er ist der Ursprung und Erstgeborene der Toten (V18b). Wieder liegen die Bedeutungsebenen der Prädikationen eng beieinander. Thema ist nicht länger die "alte" Schöpfungswirklichkeit, sondern die im Sinne göttlicher Neuschöpfung vorgestellte Rettung und Erlösung der Menschen. Christus ist der Ursprung, aus dem die neue Schöpfungswirklichkeit hervorgeht. Darum ist er zugleich der "Erstgeborene der Toten", der als neuer Adam die Schuldverstrickung des alten Adam durchbricht und an die Stelle des Todes das neue Leben in Christus setzt. Angesprochen ist nichts Geringeres als das Geheimnis von Ostern. Insofern Christus der Urheber allen Heils und Spender neuen Lebens ist, steht er aller Schöpfungswirklichkeit voran. Wie der Apostel Paulus (vgl. 2 Kor 5,20 - hier übrigens ebenfalls im Kontext schöpfungstheologischer Konnotationen) deutet auch der Verfasser des Kolosserbriefes dieses von Gott her in Christi Tod und Auferweckung grundgelegte Heilsereignis als ein Versöhnungsgeschehen. Vorausgesetzt ist dabei die Tatsache vormaliger objektiver Feindschaft der Menschen zu Gott, die sich in der Macht der Sünde Ausdruck verleiht und im Untergang der Lebenden manifestiert. Gottes gnadenhafte und liebevolle Zuwendung allein eröffnet den Menschen neue Möglichkeiten: In der Auferweckung des Gekreuzigten zerbricht Gott das Joch der alten Feindschaft und stiftet Versöhnung, indem er das Leben in jeder Hinsicht über den Tod triumphieren lässt und so umfassenden Frieden (Schalom) ermöglicht (vgl. V20).

4. Theologische Implikationen

Gen 1, 26 spricht jedem Menschen zu, Gottes Ebenbild zu sein. Damit trifft die Genesis die fundamentale anthropologische Grundaussage, dass ausnahmslos jedem menschlichen Geschöpf als solchem von Gott her unermessliche Würde zukommt. Die modernen Menschenrechte stellen die politische Lehre dar, die die meisten Staaten dieser Welt daraus gezogen haben. Im Licht des Neuen Testaments gewinnt diese Anthropologie eine zusätzliche christologische Perspektive. Vom Menschen Jesus Christus wird glaubend ausgesagt, er sei das Bild Gottes (2 Kor 4,4), d.h. in Jesus Christus ist Gott selbst gegenwärtig und vermittelt sich und seinen heiligen Willen durch ihn und mit ihm und in ihm. Das "Bild Gottes", das Jesus darstellt, ist ein Original. Es ist nicht von geringerer Substanz und Wertigkeit als das, was es abbildet - nach Kol 1,15 den für das menschliche Auge unsichtbaren Gott. In Jesus Christus offenbart sich Gott, der Heilige Israels, als er selbst. Er wahrt seine Gottheit, mehr noch: Er bringt sie zur Geltung und öffnet sie in Jesus Christus. Und umgekehrt: Jesus Christus bringt Gott zur Geltung, macht ihn offenbar, wie er in Wahrheit ist. Deshalb bezieht sich die Bild-Christologie des Kolosserbriefes nicht nur auf den irdischen Jesus, sondern ebenso auf den präexistenten und erhöhten Kyrios Jesus Christus (1). Daraus ergibt sich für die Anthropologie Wesentliches: Gen 1,26f zielt in ursprünglicher Absicht auf die Beschreibung des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott. Im Horizont des Neuen Testaments verbindet sich mit dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Vorstellung seiner Befreiung von Schuld und seiner Errettung aus tödlicher Verstrickung. Wenn der Mensch "nach" jenem Bild geschaffen ist, das Jesus Christus ist, steht Jesus Christus auch - als Mensch und Gott - von allem Anfang an und über jede Grenze hinaus an der Seite des erschaffenen Menschen (2). So erhält der Glaube an die Gottebenbildlichkeit des Menschen eine heilsrelevante Dimension: Der Mensch ist von Gott her nicht zum Sterben, sondern zum Leben erschaffen. Das bedeutet aber auch, dass den Menschen die Gottebenbildlichkeit nicht ungeachtet seiner Sündenverfangenheit und Todgeweihtheit ziert, sondern aufgrund der ihm in Christus zuteil gewordenen Liebe Gottes. Da dem Menschen in Jesus Christus, dem Mit-Menschen, das Gottsein Gottes aufleuchten kann, bedeutet seine Erschaffung nicht Freisetzung von Gott, sondern vielmehr Teilhabe an seiner Liebe. Wenn Jesus, der Mensch, Gott darstellt, wie er ist, lässt sich an seinem Leben, Sterben und Auferstehen ablesen, was wahres Menschsein ausmacht. Das Bild Gottes ist ein Vorbild. Er kann es nur sein, weil er mehr ist: Urbild gelingenden Lebens, "Anfänger und Vollender des Glaubens" (Hebr 12,2). Aber er ist Gottes rettendes Wort als Mensch unter Menschen (3).

5. Anregungen zur Bibelarbeit

1. Gemeinsames Gebet/Gesang (GL 560):

Gelobt seist Du, Herr Jesu Christ,
ein König aller Ehren,
Dein Reich ohn’ alle Grenzen ist,
ohn’ Ende muss es währen.

Das All durchtönt ein mächt’ger Ruf:
"Christ A und O der Welten!"
Das Wort, das sie zu Anfang schuf,
wird bis ans Ende gelten.

Auch jeder Menschenseele Los
fällt, Herr, von Deinen Händen,
und was da birgt der Zeiten Schoß,
Du lenkst es aller Enden.

O sei uns nah mit Deinem Licht,
mit Deiner reichen Gnade,
und wenn Du kommst zu dem Gericht,
Christ, in Dein Reich uns lade.
Christkönig, Halleluja, Halleluja!

2. Den Hymnus lesen

3. Eine Zeit der Stille halten

4. Den Hymnus noch einmal lesen

5. In einem weiteren Moment der Stille dem Hymnus und seinen Prädikationen nachspüren:

Welche spricht mich an, welche nicht? Evtl. ein Gespräch darüber führen.

6. Versuchen, Fürbitten zu formulieren:

Herr Jesus Christus, in Dir ist alles geborgen. Höre unsere Bitten:
- dass wir in Dir dem Ursprung unseres Lebens begegnen
- dass wir in Dir das Haupt der Kirche erkennen
- dass wir die Schöpfung als Werk deiner Hände lieben lernen
- …

6. Zeit der Stille

7. Gemeinsames Gebet: Hymnus aus dem Stundenbuch:

Christus, göttlicher Herr,
Dich liebt, wer nur Kraft hat zu lieben:
unbewusst, wer Dich nicht kennt,
sehnsuchtsvoll, wer um Dich weiß.

Christus, Du bist meine Hoffnung,
mein Friede, mein Glück, all mein Leben:
Christus, Dir neigt sich mein Geist;
Christus, Dich bete ich an.

Christus, an Dir halt’ ich fest
mit der ganzen Kraft meiner Seele:
Dich, Herr, liebe ich  -
Suche Dich, folge Dir nach.

6. Literatur

  • J. Gnilka, Der Kolosserbrief (HThKNT X/1), Freiburg 1980
  • E. Schweizer, Der Brief an die Kolosser (EKK XII), Neukirchen-Vluyn 1980
  • H. Hübner, An Philemon. An die Kolosser (HNT 12), Tübingen 1997
  • U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1999
  • Th. Söding, Der Gottessohn aus Nazareth. Das Menschsein Jesu im Neuen Testament, Freiburg 2006

(1) So Th. Söding, Gottessohn 351
(2) So Th. Söding ebd.
(3) So Th. Söding 352

Text: Kaplan Robert Vorholt, Dülmen, Oktober 2006
Katholisches Bibelwerk im Bistum Münster (www.bibelwerk.de)
in Kooperation mit Kirche+Leben (www.kirche-und-leben.de)