Die Krippe im St.-Paulus-Dom

Seit der Weihnachtszeit 2003 wird die Domkrippe vor dem linken Vierungspfeiler im Chorraum aufgebaut und nicht mehr in der südlichen Turmkapelle. Sie steht damit unübersehbar an einer ganz zentralen Stelle nicht nur für Besucher des Doms und insbesondere Krippenwanderer, sondern sie vergegenwärtigt die frohe Botschaft des Weihnachtsevangeliums vor allem auch für die Teilnehmer an den Gottesdiensten.

Die voll geschnitzten Lindenholzfiguren heben sich deutlich von den Fichten und dem dunklen Stall im Hintergrund ab. Moos, Sand, Steine, grüne Pflanzen und wenige rote Christsterne sind zu einer idyllischen Landschaft gestaltet, die zusammen mit den ausdrucksstarken Figuren eine Krippe bildet, die den Betrachter zum Nachdenken anregen möchte und die mit diesem Anspruch besonders gut in die Bischofskirche passt.

Die Krippe zeigt zum Weihnachtsfest die Heilige Familie, die Verkündigung an die Hirten und die Anbetung der Hirten. Die kniende Maria und Josef mit dem Wanderstab verehren das göttliche Kind, zu dem sich der älteste Hirt, gestützt auf seine Hirtenschaufel, in Demut und Andacht hinabbeugt. Anstelle von Ochs und Esel vertritt ein Schaf an der Krippe die Welt der Tiere. Ganz als himmlischer Bote erscheint der Engel: Nicht nur der Arm weist zum Himmel empor, sondern unübersehbar auch der mächtige Flügel. So verkündet er für jeden sichtbar sein „Ehre sei Gott in der Höhe“. Während der zweite Hirte mit staunenden Augen und ausgestrecktem Arm je nach Positionierung auf den Engel oder die Heilige Familie weist, lauscht ein dritter mit gefalteten Händen der göttlichen Botschaft. In der Figur des Hirtenknaben haben Überraschung und Freude Gestalt angenommen.

Die Verkündigung an die Hirten und ihre Ankunft in Betlehem gehen auf das Lukas-Evangelium zurück, während die Anbetung des Kindes durch die Hirten erst unter dem Einfluss der franziskanischen Frömmigkeit in Italien um die Mitte des 14. Jahrhunderts bildlich dargestellt wurde. Die Hirten als die Ärmsten des Volkes sind im Sinne des Evangelisten Lukas und besonders auch des Franz von Assisi die Auserwählten, denen der Engel die frohe Botschaft verkündet, und sie dürfen das in Armut geborene Kind als erste anschauen und verehren.

Zum Dreikönigsfest werden die kniende Maria und das Kind in der Krippe ausgetauscht durch eine sitzende Maria mit dem auf ihrem Knie stehenden Jesuskind, das mit einladender Geste die Könige und auch die Besucher der Krippe begrüßt. Der älteste König kniet vor dem Kind und hat ihm als Zeichen der Huldigung seine Krone zu Füßen gelegt. Der zweite König ist durch eine asketische Gestalt und einen visionären Blick charakterisiert, während das Gesicht des afrikanisch anmutenden Königs Freude widerspiegelt.

Die hellen Lindenholzfiguren mit der leicht strukturierten Oberfläche sind gewachst, nur die Iris der Augen ist dunkler getönt, um die Gesichter zu beleben. So einheitlich das Erscheinungsbild der Krippe ist, so unterschiedlich sind die Figuren, von denen jede einzelne den Betrachter zum Meditieren einlädt. Maria und Josef sind in sich und in den Anblick des Kindes versunken. Die Hirten verkörpern mit ausdrucksstarker Gestik Grundhaltungen des Menschen angesichts des Weihnachtswunders. Die Drei Könige sind durch ihre Kronen, durch kunstvolle Gefäße und Schmuck gekennzeichnet. Diese Gegenstände sind ebenso wie die Köpfe und Hände detailliert ausgearbeitet. Die meist bodenlangen Gewänder sind eher schlicht gehalten und durch eine bewegtere Linienführung besonders bei den beiden jüngeren Königen aufgelockert; einzelne Gliedmaßen wie Arme und Beine zeichnen sich darunter andeutungsweise ab. Die Formgebung der sinnbildlich zu deutenden Figuren, ihre ausdrucksbetonten Gesichter und Gesten sowie die von den Gewändern verhüllten Körper erinnern an Skulpturen von Ernst Barlach.

Schwester Eberhardis Kohlstedt (1901-1992) von der Ordensgemeinschaft der Franziskanerinnen von der Buße und der christlichen Liebe in Nonnenwerth hat die Krippenfiguren im Alter von 70 Jahren geschaffen. Die aus dem Oldenburger Münsterland gebürtige Künstlerin hatte zunächst in Berlin eine Ausbildung als Kunsterzieherin erhalten. 1927 war sie in den Orden der Franziskanerinnen eingetreten und hat von 1928 bis 1945 im Kloster St. Elisabet in Trier Entwürfe für die Paramentenstickerei geschaffen. Nach einem weiteren Studium an den Kölner Werkschulen hat sie sich dann von 1958 bis 1987 in der Werkstatt für Kirchenkunst der Franziskanerinnen in Bad Honnef der Bildhauerei gewidmet. Hier sah der damalige Domsakristan Bruder Florian Hinsken während des Urlaubs die Krippe von Schwester Eberhardis, und auf seine Vermittlung wurden die Figuren zu Weihnachten 1973 erstmals im Dom zu Münster aufgestellt.

Bischof Heinrich Tenhumberg und das Domkapitel befürworteten den Ankauf der Krippe, und im Februar 1974 wurde der Künstlerin im Rahmen der jährlichen Krippenausstellung im Heimathaus Münsterland (Telgte) der „Ehrenpreis des Bischofs für vorbildliches Krippenschaffen“ verliehen. Dieser Preis, 1969 von Bischof Heinrich Tenhumberg begründet, wurde 1985 von Bischof Dr. Reinhard Lettmann in Anerkennung der Verdienste seines Vorgängers um die Belebung der Weihnachtskrippe in „Bischof-Heinrich-Tenhumberg-Preis“ umbenannt.

Schwester Eberhardis hatte 1973 die südliche Turmkapelle als Aufstellungsort für ihre Krippe bestimmt, und zwar unter dem damals dort hängenden Lettnerkreuz von Johann Brabender. Sie hat sich ausdrücklich für eine schlichte Landschaft ausgesprochen und ist späteren Bitten nach einer Lieferung von Ochs und Esel und weiteren Schafen nicht nachgekommen. Sie wollte den Blick des Betrachters auf das Wesentliche des Weihnachtsgeschehens lenken und empfand weitere Ergänzungen offensichtlich als überflüssig oder sogar störend. Einen Eingriff in die Konzeption der Künstlerin bedeutet der neue Stall, der für die Aufstellung der Krippe im Chor 2003 vom Hausmeister des Doms aus alten Transportkisten geschreinert worden ist. Zusammen mit den Fichten schließt er jedoch die Krippenlandschaft nach hinten ab und vermittelt auch ein Gefühl der Geborgenheit, das am früheren Standort durch die Architektur der Turmkapelle gegeben war.

Eine ähnliche Krippe wie die im Dom zu Münster hat Schwester Eberhardis für das Generalat ihrer Ordensgemeinschaft in Rom gearbeitet. Weitere Krippen von ihr stehen in St. Antonius Trier, in St. Paulus Bonn-Beuel, in der Krankenhauskapelle in Wegberg, und eine große Krippe mit bekleideten Figuren gibt es in der Karolus-Kirche in Berlin-Grunewald. Vor allem aber hat die Künstlerin größere religiöse Kunstwerke in Holz, Ton oder Bronze geschaffen: Kreuzwege, Kreuze, Madonnen und andere Einzelfiguren bzw. Figurengruppen. So bestätigt sich der Eindruck, dass die Domkrippe weniger das Werk einer Krippenkünstlerin als das einer Bildhauerin ist und dass die Figuren trotz aller krippentypischen Anschaulichkeit wie einzelne Skulpturen betrachtet werden können.

Die Krippe von Schwester Eberhardis ist höchstwahrscheinlich die erste Weihnachtskrippe, die je im Dom zu Münster aufgestellt worden ist. Der Beleg, den Dr. Franz Krins, der frühere Leiter des Museums Heimathaus Münsterland (Telgte), für das Jahr 1799 in den Akten des Domkapitels über Ausgaben „Behuf der Krippe für Nägel und Heu...“ gefunden hat, bezieht sich auf die Kirche in Telgte und entfällt somit (Staatsarchiv Münster, Domkapitel Münster, Domkellnerei. Akten Nr. 1724). In den Jahresrechnungen des Doms bis 1935, in alten Küsterakten und Inventaren finden sich keine Hinweise auf eine Krippe. Für die Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg wird dies durch die Aussagen der früheren Domsakristane bestätigt. Seit Anfang der 1970er Jahre gibt es im Dom außer der Krippe von Schwester Eberhardis Kohlstedt noch ein Krippenrelief von Hans Dinnendahl (1901-1966), das zu Weihnachten in der Marienkapelle aufgestellt wird.

Der Dom hat also im Gegensatz zu den münsterschen Pfarrkirchen, für die es viele Belege gibt, in früherer Zeit keine Krippe besessen; eine Erklärung mag darin liegen, dass er keine Pfarrkirche gewesen ist. Außerdem gab es seit dem Mittelalter eine Reihe von Christgeburtsdarstellungen innerhalb und außerhalb des Domes, von denen hier nur zwei erwähnt seien. Die bedeutendsten Darstellungen zur Kindheit Jesu hat Johann Brabender geschaffen. Besonders sehenswert ist sein Dreikönigsaltar, den der Domherr Melchior von Büren vor seinem Tod im Jahr 1546 gestiftet hat. Das farbig gefasste Sandsteinrelief befindet sich seit 1989 in der nördlichen Kapelle des Chorumgangs.

Nicht nur für Krippenfreunde interessant ist auch der Dreikönigsumgang an der berühmten Astronomischen Uhr. Die wahrscheinlich ebenfalls von Johann Brabender 1542 geschnitzten beweglichen Holzpuppen mit Stoffgewändern, die Krippenfiguren gleichen, umwandeln jeden Mittag um 12 Uhr auf einem Balkon oberhalb des Zifferblattes in einem mechanischen Spiel die Gottesmutter mit dem Kind auf dem Schoß und verbeugen sich vor den beiden, bevor sie mit ihren Begleitern wieder durch eine Tür verschwinden. Dazu erklingt ein Glockenspiel.

Das Thema der Christgeburt ist also im Dom das ganze Jahr über präsent. Dennoch bedeutet die Aufstellung der Krippe mit ihrer auf die Weihnachtszeit begrenzten Dauer eine intensivere Vergegenwärtigung des Weihnachtsevangeliums, die den Besucher zum verweilenden Betrachten einlädt.
 

aus: Gertrud Mayr, Weihnachtskrippen in Münster,
dialogverlag Münster 2008, S. 57-61
Fotos: Günter Ruhe

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