Ex-Verfassungsrichter Huber: Keine Staatskrise, aber zunehmende Polarisierung

Prof. Dr. Peter Michael Huber bei seinem Vortrag im St.-Paulus-Dom. © Bistum Münster/Thomas Mollen

(pbm/tom). „In Deutschland gibt es derzeit weder eine Staats- noch eine Verfassungskrise.“ Zu diesem eindeutigen Urteil kam der frühere Bundesverfassungsrichter Prof. Peter Michael Huber in seinem Vortrag bei den DomGedanken am 14. August im St.- Paulus-Dom zu Münster. Gleichwohl erlebten wir seit Jahren eine zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft, die die Akzeptanz des Staates und seiner Institutionen mittelfristig durchaus gefährdeten.

Hubers Ausführungen waren überschrieben mit dem Titel „Nach 75 Jahren Grundgesetz – Ist der demokratische Rechtsstaat in Gefahr?“ Darin hob der frühere Verfassungsrichter und heutige Jura-Professor der Universität München zunächst die Errungenschaften der Verfassung hervor: Auf Basis des Grundgesetzes sei es gelungen, die zum Teil noch aus dem Kaiserreich stammende Rechtsordnung unseres Landes „vom Kopf auf die Füße zu stellen.“ Heute blicke man – anders als vor 1949 – nicht mehr „von oben“, aus Sicht des staatlichen Systems, auf eine Rechtsfrage, sondern „von unten“, aus der Perspektive der betroffenen Bürgerinnen und Bürger.

Über die Jahre habe sich das Grundgesetz im Bewusstsein der deutschen Gesellschaft zu einer dauerhaften und geschätzten, teilweise sogar verehrten, Verfassung entwickelt. Die erfolgreiche Etablierung eines demokratischen Rechtsstaats nach dem Krieg und die im Großen und Ganzen gelungene Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen hätten das Bewusstsein dafür wachsen lassen, „dass die Integrität des Grundgesetzes einen Eigenwert darstellt, den man verteidigen muss.“

Dabei sei Deutschland, anders als manche Nachbarstaaten, von einer grundsätzlichen Infragestellung des demokratischen Rechtsstaats bislang verschon geblieben. Ernsthafte Versuche, das Bundesverfassungsgericht zu entmachten, habe es ebensowenig gegeben wie eine Gleichschaltung der Justiz oder eine Kaperung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch die Regierung.

Dieser Erfolg des demokratischen Rechtsstaats sei aber kein Grund, sich auf den Lorbeeren auszuruhen, argumentierte Huber. Denn seit etwa einem Jahrzehnt erlebe Deutschland eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung, die mittel- und langfristig geeignet sei, das Vertrauen in staatliche Institutionen zu unterminieren.

Zu den vielfältigen Ursachen dieser Polarisierung zählte Huber unter anderem die Art und Weise, wie wir in Deutschland unsere Demokratie auf der Basis des Grundgesetzes ausgestalteten. Die Migrationskrise, die Pandemiebekämpfung oder auch die Klimaschutzpolitik, in all diesen Politikbereichen identifizierte er Hinweise auf eine mangelnde „Responsivität“ der Politik gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Ein Beispiel sei die Vielschichtigkeit der politischen Kompetenzverteilung zwischen europäischen Pressedienst Bistum Münster 15.08.24 Institutionen, Bund, Ländern und Kommunen: „Wenn alle bei allem mitreden, ist letzlich niemand wirklich verantwortlich. Das mag für die politischen Akteure durchaus attraktiv sein, für die Demokratie ist es ein Desaster.“ Die Bürgerinnen und Bürger würden mit ihren Anliegen mitunter auf eine „kafkaeske Reise“ geschickt und es sei niemand da, der durch die Wähler adressiert und im Extremfall in die Wüste geschickt werden könne.

Für die Akzeptanz des demokratischen Rechtsstaats sei es entscheidend, dass die Bürgerinnen und Bürger sich ernst genommen fühlten und sich die politischen Akteure nachvollziehbar um Lösungen bemühten. Huber machte mehrere Vorschlage, wie dies aus seiner Sicht gelingen könne: Klarere Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Ebenen des politischen Systems, Verzicht auf längere Legislaturperioden, Stärkung der Rechte von einzelnen Abgeordneten gegenüber Fraktionen und Regierung oder die Nutzung von Formen der direkten Demokratie.

Zum Schluss richtete Huber einen Appell an die Zuhörenden: „Wir sind das Volk, und daher tragen wir, jeder für sich und nach seinen Möglichkeiten, die Verantwortung dafür, dass die Voraussetzungen, von denen der demokratische Rechtsstaat lebt, erhalten und intakt bleiben.“

Die musikalische Gestaltung des Abends übernahmen die Pianistin Batia Lorenzen sowie Eckart und Daniel Lorenzen an der Violine.

Die „DomGedanken“ 2024 tragen den Obertitel „Zeitenwende – Wie damit umgehen“. Fünf Wochen lang sind jeden Mittwochabend Positionen aus verschiedenen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen zu hören, die zum Weiterdenken und Handeln inspirieren sollen, wie diese Wende aktiv gestaltet werden kann. Am kommenden Mittwoch, 21. August, spricht die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Prof. Aleida Assmann zur Frage „Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag?“

Die Vorträge dieser Reihe, die von Evonik Industries ermöglicht wird, starten um 18.30 Uhr im St.-Paulus-Dom zu Münster. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Am Ende jeder Veranstaltung bittet das Vorbereitungsteam um eine Spende für die „Bischof-HermannStiftung“ in Münster, die sich seit 1896 in den Bereichen Wohnungslosenhilfe, Eingliederungshilfe, Jugend- und Migrationshilfe engagiert. Die „DomGedanken“ werden im Internet auf www.paulusdom.de und www.bistummuenster.de übertragen.

Thomas Mollen

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