Andrea Nahles spricht beim Geistlichen Themenabend - Armutsprävention: Hilfesysteme müssen bekannt und nutzbar werden

Bildzeile: Andrea Nahles sprach beim Geistlichen Themenabend im St.-Paulus-Dom in Münster zum Thema „Neue Armut, neuer Reichtum. Sozialpolitik.“ Bild: Bischöfliche Pressestelle/Simon Kaiser

Münster (pbm/jg). Die Kraft und die Geduld aufzubringen, niemanden, der in Armut lebe oder armutsgefährdet sei, aufzugeben, sei eine Verpflichtung in einem reichen Land wie Deutschland eines ist. Das machte Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), am Mittwochabend im St.-Paulus-Dom in Münster deutlich. Die ehemalige Bundesarbeitsministerin sprach im Rahmen der Vortragsreihe Geistliche Themenabende – diese stehen in diesem Jahr unter der Überschrift „Umkehr und Erneuerung“ – zum Thema „Neue Armut, neuer Reichtum. Sozialpolitik.“

Was Gastgeber Dompropst Hans-Bernd Köppen in seiner Begrüßung als „zunehmende Spannung in der Gesellschaft zwischen arm und reich“ bezeichnete, machte Andrea Nahles in ihrem Vortrag deutlich: „10 Prozent der deutschen Bevölkerung besitzen 56 Prozent des Gesamtvermögens des Landes.“ Darüber hinaus seien Daten zu Reichtum kaum verfügbar, sie seien „wie ein flüchtiges Reh.“

Reichtum, fasste Nahles zusammen, zeige sich vor allem durch Reichtum an Boden, Kapital und Daten. „Dass wesentliche Innovationen datengetrieben sind, und wer keinen Zugang zu Daten hat, von der Innovation abgeschnitten ist, überrascht vielleicht. Umgekehrt bedeutet das, dass durch Daten gigantischer Reichtum generiert wird.“, sagte sie. Deswegen müssten Daten geteilt, Datenmonopole in Frage gestellt werden. Selbstverständlich mit Regeln und Gesetzen.

Armut, stellte die BA-Vorstandsvorsitzende klar, habe ein junges Gesicht: „18- bis 25-Jährige sind am häufigsten von Armut betroffen oder armutsgefährdet. Zudem leben 2,8 Millionen Kinder unter der Armutsgrenze oder äußerst nah daran.“ Nahles stellte die Frage nach dem Warum und resümierte: „Wir haben Systeme der Hilfe die nicht gut ineinandergreifen.“ Deswegen gelinge Armutsprävention nicht so, wie sie gelingen könne und müsse. Systeme wie zum Beispiel der Kinderzuschlag würden nicht richtig genutzt: „Lediglich 30 Prozent der Menschen, die berechtigt sind, nutzen dieses Hilfesystem auch. Dieses besagt, dass Eltern, die arbeiten, aber durch die Ausgaben für das Kind oder die Kinder mit ihrem Einkommen wieder unter die Armutsgrenze rutschen, ein Recht auf diesen Zuschlag haben“, erklärte die BA-Chefin. Es gebe zwei Gründe, warum die Nutzung so vergleichsweise gering sei: „Zum einen wissen die Berechtigten nichts von diesem Hilfesystem. Zum anderen scheitern sie an komplizierten Anträgen.“ Rechtlich seien viele Hilfesysteme da, „aber die sind immer nur so gut, wie sie auch genutzt werden und genutzt werden können.“

Die BA habe sich vorgenommen, näher an die Menschen heranzukommen, um Hilfesysteme – der Kinderzuschlag werde wie das Kindergeld von der BA ausgezahlt – bekannt und nutzbar zu machen. „Nicht der Bürger geht zu zig unterschiedlichen Behörden. Wir bewegen uns.“ In Hamburg und Bremen gebe es bereits ein Verfahren, das bei der Geburt eines Kindes nur der Antrag auf Kindergeld ausgefüllt und eine Lohnsteuerbescheinigung hochgeladen werden müsse, „und den Rest, also ob weitere Berechtigungen auf die unterschiedlichsten Hilfesysteme bestehen, regeln die Behörden untereinander.“

47.000 junge Frauen und Männer verließen die Schule ohne Abschluss, so Nahles. „Wer den Übergang von der Schule zum Erwerbsleben nicht schafft, trägt lebenslang ein deutlich erhöhtes Risiko von Armut. Trotz der guten Arbeitsmarktlage“, fasste sie zusammen. Die Arbeitslosenquote unter Menschen ohne Ausbildung betrage 19,8 Prozent – im Vergleich zur allgemeinen Arbeitslosenquote von 5 Prozent.

„Wir als BA haben die Möglichkeit, diesen Menschen zu helfen, Armutsprävention zu betreiben. Aber wir kommen nicht an die Daten der 47.000. Lediglich in Hamburg und Bremen wird von der gesetzlichen Möglichkeit, dass wenn die Länder es möglich machen, ein Datentransfer stattfinden kann, Gebrauch gemacht“, erklärte Nahles. Hier sei der Datenschutz, der generell sinnvoll und richtig sei, ein Hemmnis.

Die BA habe mit dem Bürgergeld nun einen besseren Werkzeugkasten zur Verfügung als noch vor zehn Jahren. „Wir können zum Beispiel mit einem Coaching über einen längeren Zeitraum mithelfen, dass Menschen wieder in den Arbeitswelt finden“, erläuterte sie. Arbeit sei der Schlüssel zur Armutsbekämpfung. „Wenn eine Person in der Familie arbeitet, sinkt das Armutsrisiko schon um 40 Prozent.  Wenn zwei Personen in einer Familie arbeiten, liegt es nur noch bei 4 Prozent.“ Es sei jede Mühe und Anstrengung wert, Menschen wieder in Arbeit zu bringen.

Armut sei, so die BA-Chefin, nicht nur auf das Materielle zu begrenzen. „Armut ist in Deutschland vor allem Armut von Möglichkeiten, Chancen und Teilhabe.“ Deutlich werde das an der Situation der 2,8 Millionen armutsgefährdeten Kinder. „Wir können nicht nur das Kind betrachten, wir müssen in einem ganzheitlichen Ansatz die ganze Familie in den Blick nehmen. Denn Kinder und junge Menschen brauchen die Unterstützung ihrer Familie. Ist diese nicht gewährleistet, muss der Sozialstaat mit seinen Hilfssystemen einspringen“, appellierte sie.

Sie sei sich bewusst, dass das Image der BA angeknackst sei. Das rühre aus einer Zeit zwischen 2005 und 2010, in der ein Arbeitsvermittler nicht selten für mehr als 800 Arbeitsuchende zuständig gewesen sei.  „Heute ist der Schlüssel 1 zu 125. Da geht jetzt was. Deutschland hat eine gute Sozialverwaltung, die besser werden muss und kann“, schloss Nahles, die sich hoffnungsvoll zeigte, am Ende des kommenden Jahrzehnts ein System der Armutsprävention so etabliert zu haben, dass „weniger Menschen durchs Raster fallen“ und „jede und jeder seine Talente entfalten und gesellschaftlich einbringen kann.“

Musikalisch umrahmten Auszüge aus der Bach-Kantate „Gott allein soll mein Herze haben“ BWV 169 den Vortrag Andrea Nahles‘. Verantwortlich zeichneten dafür Brigitte Zauner, das Ensemble Midori Goto und Domorganist Thomas Schmitz.
 
Beim nächsten Geistlichen Themenabend am kommenden Mittwoch, 22. März, spricht ab 19.30 Uhr Dr. Thomas Sternberg, von 2015 bis 2021 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, zum Thema „Neue Krisen, neue Lösungen. Kirchenreform.“ Patrick Roth, Drehbuchautor, Regisseur und Schriftsteller beschließt die Veranstaltungsreihe der geistlichen Themenabende im St.-Paulus-Dom am Mittwoch, 29. März, ab 19.30 Uhr mit seinem Vortrag unter der Überschrift „Neue Töne, neue Farben. Lebenswandel.“

Zur Person:
Andrea Nahles ist seit dem 1. August 2022 Vorsitzende des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit. Von 2020 bis 2022 war sie Präsidentin der Bundesanstalt für Telekommunikation. Zuvor war Andrea Nahles in verschiedenen hochrangigen politischen Positionen tätig, unter anderem SPD-Vorsitzende (2018 bis 2019) und SPD-Fraktionsvorsitzende (2017 bis 2019). Von 2013 bis 2017 war sie Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Von 1998 bis 2002 sowie von 2005 bis 2019 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages und in dieser Zeit Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Andrea Nahles hat Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Bonn studiert. Sie ist Kuratoriumsmitglied der Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte und im Freundeskreis der Abtei Maria Laach.

 

Öffnungszeiten

Der Dom ist werktags von 6.30 bis 19.00 Uhr und sonntags von 6.30 bis 19.30 Uhr geöffnet.

Beichtzeiten

Die aktuellen Beichtzeiten finden Sie jeweils in der wöchentlichen Gottesdienstordnung.

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Geistliche Themenabende 2024
21. Februar bis 27. März
jeweils mittwochs 18.30 Uhr