Herta Müller bei Domgedanken: Freiheit ist nicht selbstverständlich

Herta Müller war zu Gast im Münsteraner Dom. Foto: Jürgen Flatken (pbm)

Es war ein beeindruckender Auftakt der fünfteiligen Reihe der „Domgedanken“ in Münster. Die 1953 in Nitzkydorf, im rumänischen Banat aufgewachsene Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller sprach über „Warum Demokratie? Von der Notwendigkeit einer Neugründung“.

Ein Viertel der deutschen Bürger glaube heute nicht mehr daran, dass die Bundesrepublik demokratisch ist. Müller aber kennt den Unterschied zwischen Diktatur und Freiheit. Aus jahrzehntelangen leidvollen Erfahrungen unter dem Regime des rumänischen Gewaltherrschers Nicolae Ceausescu. „Jede Diktatur stiehlt einem das Leben“, warnt sie. Rechte Populisten würden allzu gern bewusst die Systeme von Demokratie und Diktatur „verdrehen“.

Die Veranstaltung am Mittwochabend im Paulusdom war unter Corona-Bedingungen ausgebucht. Viele Zuschauer versuchten im Livestream an den heimischen Geräten den „Domgedanken“ zu folgen. Leider klappte es mit der Technik nicht perfekt. Erst in der 18. Minute setzte der Ton ein. Da hatte Dompropst Kurt Schulte seinen besonderen Gast bereits begrüßt und in ihr Werk eingeführt. Zum Glück hatte Müller gerade erst mit ihrem Vortrag begonnen, als endlich etwas zu hören war.

Herta Müller beschreibt Leben in der Diktatur

Die zierliche Frau mit schwarzen Haaren, schwarzer Bluse und schwarzen Hosenanzug am Dom-Ambo spricht eine sanfte, friedliche Sprache voller Bilder und einfühlsamer Wortkreationen. Müller beschreibt ihr Leben unter Ceausescu, dem sie 1987 nach Deutschland entfliehen kann: „Das ganze Land war ein Angstgebäude.“ Es gab „Angstherrscher“ und das „Angstvolk“, „Angstmacher“, „Angstbeißer“ und „Angstträger“. Angst sei Kennzeichen und Mechanismus diktatorischer Systeme.

Mit dem kupferroten Fell eines Fuchses fängt Müllers persönliche Angstgeschichte an. Den Pelz hatte die Mutter ihrer Tochter zu Weihnachten geschenkt, um daraus einen Mantelkragen zu schneidern. Da das Fell noch vollständig mit Kopf und Schwanz ausgestattet war, traute sich niemand, es zu zerschneiden. Müller legte es stattdessen „wie ein Haustier“ auf den Boden ihrer Wohnung.

Angst vor rumänischem Geheimdienst

15 Jahre später, sie arbeitete zu jenem Zeitpunkt als Übersetzerin für Deutsch in einer Maschinenfabrik, war zunächst der Schwanz abgeschnitten, dann der rechte hintere Fuß. In zeitlichen Abständen folgten der hintere linke Fuß und die Vorderfüße. An der Wohnungstür findet Müller keine Einbruchsspuren. Der rumänische Geheimdienst, die Securitate, „kam und ging wie er wollte“. Er hatte mit den Verstümmelungen eindeutige Zeichen hinterlassen. „Ich sollte wissen, dass mir in meiner Wohnung dasselbe passieren konnte wie dem Fuchs.“

Alsbald suchte ein Securitate-Mann Müller auch in der Fabrik auf. Er wollte sie als Spitzel anwerben. Mit ihrer Weigerung begannen die Sanktionen. Ab da galt sie als Staatsfeindin und „parasitäres Element“. Sie wurde mit dem Leben bedroht, beschimpft, verlor ihre Arbeit und wurde immer neuen Verhören unterzogen, ohne zu wissen, ob sie danach in einem Lager oder Gefängnis verschwand.

Individualität verpönt

Arbeitslosigkeit konnte mit Haft bestraft werden. Aber auch die Arbeit selbst erlebte Müller als „staatlich überwachte Präsenz“: „Anwesenheit war wichtiger als Produktivität.“ Für diesen Gehorsam habe es vom ersten Arbeitstag bis zur Rente ein Gehalt gegeben. Ihre Mutter warf ihr deswegen nach dem Rauswurf vor: „Die anderen applaudieren und verdienten Geld, und du bringst unsere Familie in Gefahr.“ Sie habe doppelte Angst verspürt – Angst um die Tochter und vor der Tochter.

Viele Bürger hätten sich in der Diktatur ein „glattes Leben gemacht“ - durch „vorauseilenden Gehorsam“, Anpassung und den Verzicht auf Individualität. Auch hätten sie von der Angst der anderen profitiert – durch kleine Geschenke und Korruption. Diese Menschen hätten sich fälschlicherweise für unpolitisch gehalten und sich der grauen Uniformität unterworfen. In allen Bereichen, von der Kleidung bis zur Architektur, habe sozialistische Gleichheit geherrscht. Individualität war verpönt. Damals habe sie verstanden: „Die Menschen wollen unauffällig sein. Ihre Angst braucht Bevormundung.“

„Freiheit ist nicht selbstverständlich“

In den ersten Jahren nach dem Fall der Diktaturen hätten die Menschen in Ostdeutschland und Osteuropa gewusst, was Freiheit bedeutet: ohne Angst denken und reden zu dürfen, offene Grenzen, Zeitungen ohne Propaganda, Vielfalt. „Aber mit aller Freiheit kam auch die Verantwortung und das eigene Risiko.“ Diese „Mischung“ mache „nervös“. Viele wollten sich lieber wieder anlehnen. Das „Bedürfnis nach Bevormundung“ habe sich neu eingestellt.

Es sei wie „ein Rückfall“, mit dem niemand im Westen und im Osten gerechnet habe. Ursachen sieht Müller in den „Hinterlassenschaften der Diktatur“, die sich wie ein „Bündel von sozialen Abhängigkeiten“ darstellten. Die Schriftstellerin spricht von „sozialen Synapsen“, neuronalen Verknüpfungen aus Denken und Fühlen. Das wirke sich inzwischen auch auf die Demokratien im Westen aus und mache sie labil. Freiheit sei etwas, was einige brauchten und andere nicht. Sie warnt in der ihr eigenen sanften Art: „Freiheit ist nicht selbstverständlich. Sie kann abhandenkommen.“

Text: Karin Weglage, www.kirche-und-leben.de
Foto: Jürgen Flatken, Bischöfliche Pressestelle