Dokumentiert: Wort zur Fastenzeit 2022 von Bischof Felix Genn

Der Wunsch nach Frieden prägt das Fastenwort von Bischof Felix Genn.

Der Wunsch nach Frieden prägt das Fastenwort von Bischof Felix Genn. | Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben

In seinem Bischofswort zur Fastenzeit ruft Münsters Bischof zum Zuhören auf – und zum Frieden in der Ukraine. Wir dokumentieren den Text.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben, die 40 Tage der Vorbereitung auf das Osterfest stehen in diesem Jahr unter schwierigen Vorzeichen. Mein erster Gedanke ist bei den Menschen in der Ukraine. Sie werden Opfer eines Despoten, für den Recht und Gesetz keine Rolle spielen.

„Pax optima rerum – der Friede ist das höchste Gut“ steht hier in Münster im Friedenssaal in Erinnerung an den Westfälischen Frieden. Das ist nicht nur ein frommer Spruch, sondern zugleich ein Appell: Überlassen wir den Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit nicht nur den politisch Verantwortlichen! Erheben wir auch als Christinnen und Christen unsere Stimme für den Frieden.

Wir brauchen eine neue Friedensbewegung in allen Ländern guten Willens, die den Despoten unserer Zeit deutlich macht: Nicht Gewalt, Krieg und Terror werden das letzte Wort haben, sondern Friedfertigkeit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe.

Schwierig sind die Vorzeichen auch für uns alle, die wir uns als Christinnen und Christen als Teil der Kirche Jesu Christi verstehen. Viele Chris­tinnen und Christen sind zu Recht zutiefst enttäuscht und wütend über das Verhalten von kirchlichen Verantwortungsträgern. Viele überlegen, aus der Kirche auszutreten, wie es eine große Anzahl schon getan hat. Besonders die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die als Ehrenamtliche und auch als Hauptamtliche in unseren Gemeinden, auf der Ebene des Bistums und der Verbände tätig sind, machen die Erfahrung, sich rechtfertigen zu müssen, warum sie überhaupt noch „bei diesem Laden“ mitmachen.

Der Druck erhöht sich, je öfter durch die Veröffentlichung von Gutachten deutlich wird, dass Geistliche Kinder und Jugendliche missbraucht haben und vor allem auch, wie kirchliche Verantwortungsträger weggeschaut und vertuscht haben und die Opfer nicht im Blick hatten.

Und auch einen anderen Zusammenhang möchte ich nennen: Die Aktion in der vorletzten Januarwoche von 125 nicht heterosexuell veranlagten Chris­tinnen und Christen, die bei der Kirche arbeiten oder gearbeitet haben, hat gezeigt, wie viele Menschen unter Moralvorstellungen gelitten haben, die ihnen von der Kirche vorgelegt wurden: So, wie du bist, bist du nicht gut, nicht gut genug für die Kirche, für Gott.

Diese Botschaft verletzt. Und sie macht, wie auch das Vertuschen in der Kirche deutlich: Es braucht eine moralische Erneuerung der Kirche. Es darf keine „Die da“-Gruppe mehr geben, auf die mit dem moralischen Finger gezeigt wird. Was es gibt, sind Glaubensgeschwister!

Als Christinnen und Christen muss es uns um die Menschen gehen, nicht um die Institution Kirche und deren Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, ist kein Selbstzweck. Aber nur eine glaubwürdige Kirche mit glaubwürdigen Verantwortungsträgern kann dazu beitragen, dass es in unserer Gesellschaft das gibt, was der Rechtsphilosoph und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde „eine Art Gemeinsinn“ nennt.

Gemeinsinn statt Zerrissenheit, das ist es, was unsere Kirche und Gesellschaft braucht. Die Erfahrung der Zerrissenheit machen wir in vielen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, wie zum Beispiel die heftige Debatte um eine Impfpflicht zeigt. Mitten in einer Situation, in der aufgrund eines ganz kleinen, für die Augen nicht sichtbaren Virus unzählige Menschen an dieser Krankheit sterben, wird heftig gestritten, ob eine Impfung sinnvoll ist oder nicht.

Auch andere gesellschaftliche Felder wären hier zu nennen. Das Problem in all diesen Bereichen ist, dass sich Blockaden bilden, so dass die eine Gruppe auf die andere nicht mehr hört beziehungsweise den Eindruck hat, dass bei allem Reden die Worte auf taube Ohren stoßen.

Schon vor einigen Wochen hatte ich mich, bevor die Ereignisse Mitte Januar sich überstürzten, gefragt, was ich Ihnen als geistliches Wort zur österlichen Bußzeit sagen sollte. Dabei wollte ich ermutigen, sich auf den Prozess einzulassen, den Papst Franziskus mit der Ankündigung ausgelöst hat, dass die gesamte Kirche sich auf einen Synodalen Weg unter den Stichworten „Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung“ begibt. In unserem Bistum haben Menschen sich an der Umfrage beteiligt. Es ist diese Absicht des Papstes, die in konkrete Formen übergehen soll, der richtige Weg in einer solchen Zeit zu sein.

Deshalb möchte ich heute, ohne Einzelheiten zu vertiefen, auf ein grundlegendes Moment eingehen, das mir selber in dieser schwierigen Situation eine Orientierung gibt. Ich denke auch, dass diese Gedanken hineinführen können in konkrete Übungen, die der Fastenzeit als Fastenzeit angemessen sind.

Liebe Schwestern und Brüder, grundsätzlich lasse ich mich – auch bei unserem Synodalen Weg in Deutschland – in allen Beratungen von einem Wort leiten, das ich in dem Buch der Exerzitien des heiligen Ignatius gefunden habe: „Es ist vorauszusetzen, dass jeder gute Christ mehr bereit sein muss, eine Aussage des Nächs­ten zu retten, als sie zu verdammen. Vermag er sie aber nicht zu retten, so forsche er nach, wie jener sie versteht, und wenn er sie übel versteht, so verbessere er ihn mit Liebe, genügt dies aber nicht, so suche er alle passenden Mittel, dass jener, sie richtig verstehend, sich rette“ (Nr. 22).

Die Meinung des anderen zu retten, bevor man sie verdammt, ja, sie eigentlich gar nicht zu verdammen, geht meines Erachtens aber nur durch intensives Hören. Selber habe ich Synodalität bei einer großen Weltsynode 2018 als eine Gemeinschaft intensiven Hörens erfahren dürfen. Mir ist dabei auch bewusst geworden, dass Hören mehr ist als der physikalische Vorgang, Schallwellen, die zu Worten ausformuliert sind, in mich aufzunehmen.

Geschieht dies allein, erlebe ich immer wieder, dass ich schon beim ersten Hören in mir eine Meinung bilde, wie ich die Meinung des anderen widerlegen kann, was ich dagegenhalten soll, dass sie in mir Sympathien oder Antipathien weckt, und von daher bin ich kaum in der Lage aufzunehmen, was in diesen Worten alles an Lebenserfahrung, an Überlegung und vor allem an grundlegenden Absichten liegt.

Um den anderen Menschen wirklich zu verstehen, bin ich gerufen, beim Hören ganz aus mir herauszugehen, mich gewissermaßen in den anderen hineinzubegeben, mich hineinzudenken und zu fühlen, um seine Meinung zu retten, beziehungsweise um noch einmal mit ihm in ein Gespräch zu treten, damit ich diese Meinung retten kann und besser ver­stehe. Und stellen wir uns vor, wir würden dieses Prinzip überall realisieren: Im Pfarreirat, im Bischöflichen Generalvikariat, in den Banken, im Bundestag, in der UNO, in der Nachbarschaft, in der Ehe und so weiter.

Liebe Schwestern und Brüder, wer sich dieser Übung aussetzt, den kostet sie etwas, ja sie kann sogar eine gewisse Fas­tenübung sein, die mehr abverlangt als der Verzicht auf bestimmte Konsumartikel. Aber sie führt zusammen, löst Blockaden, begibt sich mit dem anderen auf einen gemeinsamen Weg, um eine Lösung zu finden, die für beide Seiten überraschend sein kann – übrigens eine grundsätzliche Überzeugung, die ich bei Papst Franziskus und seinen Äußerungen immer wieder finde.

Liebe Schwestern und Brüder, mit diesen Gedanken gebe ich Ihnen keine Lösungsvorschläge für die erschütternde Krise, in der wir in vielerlei Hinsicht stehen. Ich versuche nur, Sie zu gewinnen, mit Ihnen diesen Weg einzuschlagen, um in der Tiefe zueinander zu finden und uns weder in der Gesellschaft noch in der Kirche auseinander reißen zu lassen.

Kürzlich las ich einen Artikel, der die Überschrift hatte: „Die Fragen hören nicht auf“, und ich musste sofort zustimmen, weil dieser Satz genau meiner Lebenswirklichkeit entspricht, sicherlich aber auch auf alle zutrifft, die sich immer wieder um Antworten auf die Fragen unserer Zeit und nach der Exis­tenz und dem Sinn ihres Lebens bemühen. In diesem Artikel hat mich in besonderer Weise ermutigt, dass ein israelischer Dichter unserer Zeit mit seinen Gedanken genau um diesen Komplex gekreist ist. Er konnte sogar sagen: „Gott schätzt den Fragenden“, und dann weiter formulieren: „Auf deine Frage gibt es nur deine Antwort: Du kennst sie auch, und doch musst du um sie bitten“.

Wir sind als Volk Gottes unterwegs. Wir sollten beieinander bleiben und nicht in Grüppchen gehen. Das ist mühsam. Aber es ist nach der biblischen Aussage Gottes Wille (vgl. Joh 17). Lassen wir davon ab, Gegner zu sehen.

Liebe Schwestern und Brüder, in diesem Bitten zu einem rechten Hören können wir uns alle in dieser österlichen Bußzeit verbinden. Es ist ein Grundanliegen Jesu, dass wir immer wieder richtig hören. Und in dieser Gemeinschaft können wir, davon bin ich überzeugt, mehr einander finden, als dass wir uns auseinander bewegen.

In diesem Sinne darf ich Sie herzlich bitten, auch für mich zu beten, wie ich es umgekehrt tue, indem ich Ihnen nun für diese österliche Bußzeit, aber auch darüber hinaus, für Ihr Leben und all Ihre Sorgen und Anliegen den Segen des allmächtigen Gottes erbitte, dass Er Sie segne, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Bischof Felix Genn