Bibelarbeit: Am größten ist die Liebe

1. Einführung

Wenn Hochzeitspaare ihre Lieblingstexte aus der Bibel aussuchen sollen, wählen die meisten 1Kor 13, das "Hohelied der Liebe", das der Apostel Paulus geschrieben hat. In keinem anderen Text der Bibel wird so intensiv darüber nachgedacht ist, was die Liebe ist und kann, was sie aushält und bewirkt, erleidet und erkennt. Angeblich macht Liebe blind – Paulus weiß es besser. Wer die Welt mit den Augen der Liebe betrachtet, erkennt erst, wie wertvoll sie ist in all ihrer Schönheit und Vergänglichkeit. Alles Glück ist Liebe (Josef Piepe) –auch im Unglück.

Freilich: Viele Liebesgeschichten zerbrechen. Auch solche, die unter dem Zuspruch von 1Kor13 gefeiert worden sind. Liebe kann in Hass umschlagen. Je heißer die Gefühle, desto schneller können sie abkühlen. "Nur die Liebe zählt" – das ist leicht gesagt und schwer getan. War der Apostel doch etwas naiv, als er der Liebe so viel zugetraut hat? Hat er die Bodenhaftung verloren? Oder müssen wir anfangen, unsere Gedanken über die Liebe neu zu ordnen? Unsere Erfahrungen mit Liebe und Hass neu zu reflektieren? Unsere Liebesgefühle zu kultivieren?

Von welcher Liebe spricht Paulus? Und wie wird sie in unserem Leben erfahrbar?

2. Der Text


redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, urteilte wie ein Kind.
Als ich ein Mann wurde, legte ich das Kindliche ab.

12 Jetzt schauen wir noch wie durch einen Spiegel
in einem dunklen Wort,
dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich nur Teile,
dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt sein werde.

13 Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.
Am größten aber ist die Liebe.

3. Hintergründe und Zusammenhänge

Das Hohelied ist ein Liebesgedicht des Paulus: ein Gedicht über die Liebe – nicht in Versen und mit Reimen, aber in poetisch erhöhtem Ton, mit vielen Verben, mit rhetorischen Figuren – und tiefen Gedanken. Paulus schreibt es in den Ersten Korintherbrief nicht nur, um die Stimmung zu erhöhen, sondern um konkrete Probleme der Kirche zu lösen.

Fünf Jahre etwa ist die Gemeinde von Korinth alt, als Paulus den Brief schreibt. Er selbst hat sie in einer Provinzialhauptstadt gegründet. Korinth war 100 Jahre zuvor vollkommen zerstört und als neue Hauptstadt der griechischen Provinz Achaia wieder aufgebaut worden: eine pulsierende Großstadt, eine Hafen- und Handelsstadt am Golf von Korinth, ein Umschlagplatz zwischen Ost und West, ein Schmelztiegel unterschiedlicher Stämme und Nationen, ein sozialer Brennpunkt mit wenigen sehr Reichen und vielen sehr Armen , aber auch eine religiös bewegte Stadt mit vielen alten und neuen Kulten, hunderten von Heiligtümern, Tempeln und Altären.

Paulus scheut die Auseinandersetzung mit der damals modernen Kultur keineswegs. Er geht in die griechischen und römischen Zentren, weil er davon überzeugt ist, dass gerade dort, wo das Leben spielt, der Glaube Wurzeln schlagen kann.

Tatsächlich hat sich die Kirche von Korinth stürmisch entwickelt. Sie ist kräftig gewachsen. Sie ist reich beschenkt mit vielen Gaben (vgl. 1Kor1,4-9). Sie ist missionarisch aktiv. Aber sie ist auch voller Probleme. Im Ersten Korintherbrief kommt Paulus immer wieder darauf zu sprechen, dass es auf der einen Seite Christen gibt, die "stark" im Glauben sind und das auch wissen. Sie geben den Ton an. Sie laden viel Arbeit auf ihre Schultern. Sie tragen das Gemeindeleben. Aber es gibt auch die – von Ihnen so genannten – "Schwachen": Christen, die noch unsicher im Glauben sind und viele Fragen und Zweifel haben, die sie in ihren Aktivitäten lähmen. Einige haben sich noch nicht ganz vom Glauben an die alten Götter lösen können und achten peinlich genau, geradezu überkorrekt darauf, dass sie nur ja nicht in Kontakt mit allem "Heidnischen" kommen (1Kor 8). Sie ziehen sich zurück. Sie glauben auch selbst, nicht wirklich wichtig für die Kirche zu sein.

Diese "Schwachen" hat Paulus ins Herz geschlossen. Er stimmt zwar in allen wesentlichen theologischen Fragen den "Starken" zu: Es gibt keine Götzen, sondern nur – allerdings gefährliche –menschliche Götzenbilder; "Projektionen" würden wir heute sagen (1Kor 8,4-6). Aber er fürchtet, dass die "Schwachen" scheitern, wenn die "Starken" ihre Stärke ausspielen. Deshalb schreibt er ihnen ins Stammbuch: "Der Schwache geht an deiner «Erkenntnis» zugrunde, er, dein Bruder, für den Christus gestorben ist" (1Kor 8,6).

Um diesen Grundkonflikt geht es auch in 1Kor13. Unmittelbar zuvor hat Paulus das Bild der Kirche als "Leib Christi" gezeichnet (1Kor12,12-27).Auch hier geht es ihm darum, zu zeigen, dass diejenigen, die sich ganz stark in die Kirche einbringen, verloren wären, wenn es nicht den ganzen Leib mit seinen vielen Gliedern gäbe – und dass diejenigen, die nur schwach in Erscheinung treten, deshalb doch alles andere als wertlos und unwichtig sind, sondern sich ohne schlechtes Gewissen auf das konzentrieren sollen, was sie zum Leben der Kirche beitragen können.

In 1Kor 13 zieht Paulus diese Gedankenlinie weiter aus. Was "stark" oder "schwach" ist, das entscheidet sich nicht nach äußerlichen Kriterien wie Ansehen oder Erfolg, sondern nur nach einem Maßstab: der Liebe.

Das "Hohelied" beginnt Paulus alles andere als harmonieselig, sondern polemisch. Die ersten drei Sätze zeichnen geradewegs ein genaues Portrait der "Starken" und dessen, was sein als ihre Stärke angesehen haben: Kraft des Geistes "in Menschen- und in Engelszungen reden", das ist die Stärke derjenigen, die eloquent und überzeugend für den Glauben werben und so intensiv beten, dass ihr eigener Verstand, ihre eigene Sprache ausgeschaltet werden, so dass se, wie man heute sagt, in "Trance" fallen und wie die Engel sprechen, nicht die Sprache von Menschen. Kraft des Geistes gibt es diejenigen – immer nur wenige – Männer und Frauen, die prophetisch reden können, also inspiriert werden, so dass sie die Zeichen der Zeit lesen können, die Zukunft vorhersagen und den Willen Gottes erkennen; kraft desselben Geistes gibt es diejenigen, die viel über das Geheimnis des Glaubens wissen, intellektuell und spirituell, so dass sie als Lehrer, als Seelenführer, als Ratgeber taugen. Durch den Geist gibt es die (ganz) wenigen, die einen bergeversetzenden Glauben haben, von dem auch Jesus (Mk 11,22-25 parr.) gesprochen hat. Es gibt geistbegabte Christenmenschen, die sich caritativ enorm für Menschen in Not einsetzen –und sogar bereit sich zum Martyrium.

All das, so Paulus, ist "stark" – aber nur unter einer Bedingung: Ohne Liebe ist dies alles "nicht". Entscheidend ist allein die Liebe.
Warum?

4. Meditation über die Liebe

Paulus beantwortet die Frage, weshalb ohne die Liebe nichts einen wirklichen Wert hat, indem er in einem zweiten Teil (13,4-7) darüber nachdenkt, was die Liebe ist. Er gibt aber keine präzise Definition – das bliebe theoretisch; er nennt eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Einstellungen. Es ist klar, dass er die Liebe loben und so schnell damit nicht aufhören will. Aber es doch keineswegs nur ein bunter Strauß von Komplimenten, den er windet, sondern ein genau überlegter, sorgsam komponierter Lobgesang.
Er beginnt mit zwei positiven Eigenschaften: Langmut und Güte (13,4).

Es folgen sieben Verneinungen: was die Liebe alles nicht tut, obwohl Menschen es üblicherweise tun: sich zu ereifern, zu prahlen, sich aufzublasen, nur die eigenen Interessen zu suchen, sich allzu gern zum Zorn reizen zu lassen, Böses mit Bösen zu vergelten und gegen Gutes aufzurechnen (13,4f.)

In der Mitte (13,6) ist ein rhetorischer Widerspruch betont: die Liebe verabscheut Unrecht und Lüge, sie hält es mit der Wahrheit und dem Recht. Zum Schluss (13,7) sagt Paulus in vierfacher Steigerung, was die Liebe positiv tut: "Alles trägt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, allem hält sie stand."

Das erste Paar – Langmut und Güte – gibt die Ausrichtung des Ganzen vor. Langmut und Güte sind Tugenden, die nicht nach innen, sondern nach außen gewandt sind. Sie zielen weniger auf Selbstvervollkommnung als auf die Gestaltung von Lebensbeziehungen zu anderen. Langmut ist gefragt, wenn ein anderer Mensch nicht so will oder nicht so kann, wie es richtig wäre. Güte ist gefragt, wenn es um die Förderung des Guten geht – zusammen mit anderen und auch gegen die (scheinbaren) Eigeninteressen.

Ein wesentliches Thema der Meditation über die Liebe ist deshalb zum einen, wie sie mit der Schuld und Schwäche anderer umgeht. Die Aussage ist vollkommen klar. Sie liegt ganz auf der Linie der Bergpredigt Jesu (Mt 5,38-48 par. Lk 6,27-36). Die Hauptaussage: Liebe bringt die Kraft zur Vergebung auf, die Kraft zu einem neuen Anfang. Sie geht den ersten Schritt zur Versöhnung. Sie bleibt auf der Seite des Friedens, auch wenn die Gesten guten Willens schnöde abgewiesen werden.

Zum anderen arbeitet die Liebe an der Selbstwahrnehmung, Selbstverständnis und an der Selbstdarstellung. Paulus geht davon aus, dass in den Menschen die Versuchung ganz tief ist, sich selbst auf Kosten anderer groß dazustehen zu lassen – und sei es dadurch, dass besonders "selbstlos" nur das Dienen großgeschrieben wird. Die Liebe ist das Organ, mit dem Menschen erkennen, dass sie "Ich" nur sagen können, wenn sie auch "Du" und "Wir" sagen, denken, fühlen können.

Beides gehört zusammen: Konfliktfähigkeit und Versöhnungsbereitschaft gibt es nicht ohne Ich-Stärke, Du-Anrede und Wir-Gefühl. Es ist gerade die Liebe, die diesen Zusammenhang stiftet.

Aber sie ist es nicht unter Menschen allein. Der Vier-Satz in Vers 7 spricht in beiden Außen-Verben von der Tragfähigkeit und der Ausdauer, der Widerstandskraft und Nachhaltigkeit der Liebe. Aber die beiden Innen-Verben richten den Blick auf Gott. Dass die Liebe immer an das Gute im Menschen glaubte und immer auf eine Wende zum Besseren hoffte, würde Paulus als Illusion kritisieren, die allzu häufig enttäuscht wird. Dass die Liebe alles glaubt und alles hofft, kann sich nur auf Gott beziehen. Die Liebe glaubt an Gott – bewusst oder nicht; sie setzt ihr ganzes Vertrauen und ihre ganze Hoffnung auf Gott – explizit oder implizit. Warum? Die Liebe, denkt Paulus, sieht im Nächsten das Geschöpf Gottes, den Bruder oder die Schwester Jesu. Die Liebe weiß, dass nur durch Gott allein "alles gut" sein und werden kann. Die Liebe ist realistisch: endgültiges Glück, vollkommenen Frieden, universale Versöhnung wird es auf Erden nicht geben; zu tief sind die Wunden der Vergangenheit,zu groß ist das Leid der Opfer, zu eng sind die Grenzen dessen, as Menschen bewirken und auch nur wünschen können. Die Liebe lebt von der Hoffnung auf das Reich Gottes, das Recht der Gerechtigkeit des Friedens und der Freude (Röm 14,17); sie liebt aus dem Glauben an Gott, den Schöpfer und Erlöser, dem Vater Jesu Christi. Wenn dieser Glaube und diese Hoffnung ausdrücklich werden –um so besser. Wenn sie unbewusst bleiben – dann gibt es immernoch die Liebe.

Freilich geht Paulus noch einen entscheidenden Schritt weiter. Langmut und Güte sind nach dem Alten Testament vorzügliche Eigenschaften Gottes. Das hat Paulus nicht vergessen noch verleugnet. Er setzt es voraus. Die Liebe, die er rühmt und preist, ist die Liebe Gottes selbst, die er in den Menschen weckt und wirkt. Im Römerbrief hat Paulus den Zusammenhang zwischen der Liebe Gottes zu uns und unserer Gottes- und Nächstenliebe präzis beschrieben: "Wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist" (Röm 5,3-5).

Es ist diese Liebe, die "bleibt" (13,8), auch wenn alles andere vergeht: nicht nur Besitz, Ansehen, Macht und Geld, sondern auch die höchsten intellektuellen und spirituellen Werte dieser Welt: selbst Prophetie und Erkenntnis. Die Liebe aber "bleibt", wie es ihre Art ist, nicht allein, sondern ist immer zusammen mit dem Glauben und der Hoffnung. Sie ist "am größten" nicht, weil Glaube und Hoffnung am Ende doch unwichtig wären, sondern in der Liebe, die Menschen erfahren und weitergeben, als Gottes- und als Nächstenliebe, am klarsten wird, wer Gott ist: der "Gott für uns" (Röm 8,31-39).

5. Vorschlag für eine Bibelarbeit

  • Sich Einfinden
    Lied: Gotteslob 625,2 - "Ubi caritas et amor, Deus ibi est" ("Wo die Güte und die Liebe, da ist Gott.") - mehrfach, lauter und leiser singen
    Gebet: Gotteslob 4,4 "Gott, du bist die Liebe …"
    Lied: Gotteslob 625,2 - "Ubi caritas et amor, Deus ibi est" - mehrfach, lauter und leiser singen
  • Die Heilige Schrift lesen
    1Kor 13 – Das Hohelied der Liebe - sehr langsam vorlesen, aufmerksam zuhören
  • Still über die Liebe nachdenken:
    - Wo habe ich Liebe erfahren? Wann und von wem?
    - Wo habe ich Liebe vermisst oder gar Hass erfahren? Wann und von wem?
    - Wo habe ich selbst Liebe geschenkt und Liebe verweigert?
    - Nach welcher Liebe sehne ich mich? Was muss ich tun, um meiner wahren Liebe gerecht zu werden?
  • Den Bibeltext wahrnehmen
    - Den Bibeltext verteilen und leise lesen,
    - dann können alle nacheinander die Aussage über die Liebe vorlesen, die sie besonders beeindruckt.
  • Den Bibeltext erklären
    - Die Hintergründe und Zusammenhänge beschreiben,
    - die Hauptaussagen benennen, wie oben dargestellt,
    - offene Fragen diskutieren:
    Wo stimmen Sie Paulus zu?
    Wo würden Sie Fragezeichen setzen? Warum?
    Sehen Sie die Möglichkeit, dass Paulus doch Recht hätte?
  • Die Bibel ins Leben übersetzen:
    - Kennen Sie Menschen, die Sie für große Liebende halten? Wie leben sie? Was erzählen sie über ihr Leben? Ihr Liebestraning? Ihre Gotteserfahrung?
    - Kennen Sie Menschen, die von sich sagen oder denken, dass sie nicht geliebt würden und vielleicht nicht liebenswürdig seien? Was wissen Sie über deren Lebensgeschichte? Können Sie ein Zeichen derLiebe setzen?
    - Wie geht es ihnen, wenn Ihnen gesagt wird: "Gott liebt dich"? Was spricht für diesen Satz, was dagegen? In welchen menschlichen Liebestaten würden Sie die Liebe Gottes erkennen?
  • Um Liebe beten:
    Gebet: Gotteslob 4,5 (Dag Hammerskjöld)
    Lied: Gotteslob 625,2 - "Ubi caritas et amor, Deus ibi est" - mehrfach, lauter und leiser singen

6. Weiterführende Literatur

  • Für exegetisch Interessierte:
    Thomas Söding, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus (SBS 150), Stuttgart 1992
  • Für philosophisch Interessierte:
    Josef Pieper, Über die Liebe, München 1972
    C.S. Lewis, Was man Liebe nennt. Zuneigung - Freundschaft - Eros - Agape (amerik. Orig. 1960), Gießen 1982

Text: Thomas Söding, Dezember 2004,
Katholisches Bibelwerk im Bistum Münster
in Kooperation mit Kirche+Leben | www.kirche-und-leben.de