Paulus beantwortet die Frage, weshalb ohne die Liebe nichts einen wirklichen Wert hat, indem er in einem zweiten Teil (13,4-7) darüber nachdenkt, was die Liebe ist. Er gibt aber keine präzise Definition – das bliebe theoretisch; er nennt eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Einstellungen. Es ist klar, dass er die Liebe loben und so schnell damit nicht aufhören will. Aber es doch keineswegs nur ein bunter Strauß von Komplimenten, den er windet, sondern ein genau überlegter, sorgsam komponierter Lobgesang.
Er beginnt mit zwei positiven Eigenschaften: Langmut und Güte (13,4).
Es folgen sieben Verneinungen: was die Liebe alles nicht tut, obwohl Menschen es üblicherweise tun: sich zu ereifern, zu prahlen, sich aufzublasen, nur die eigenen Interessen zu suchen, sich allzu gern zum Zorn reizen zu lassen, Böses mit Bösen zu vergelten und gegen Gutes aufzurechnen (13,4f.)
In der Mitte (13,6) ist ein rhetorischer Widerspruch betont: die Liebe verabscheut Unrecht und Lüge, sie hält es mit der Wahrheit und dem Recht. Zum Schluss (13,7) sagt Paulus in vierfacher Steigerung, was die Liebe positiv tut: "Alles trägt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, allem hält sie stand."
Das erste Paar – Langmut und Güte – gibt die Ausrichtung des Ganzen vor. Langmut und Güte sind Tugenden, die nicht nach innen, sondern nach außen gewandt sind. Sie zielen weniger auf Selbstvervollkommnung als auf die Gestaltung von Lebensbeziehungen zu anderen. Langmut ist gefragt, wenn ein anderer Mensch nicht so will oder nicht so kann, wie es richtig wäre. Güte ist gefragt, wenn es um die Förderung des Guten geht – zusammen mit anderen und auch gegen die (scheinbaren) Eigeninteressen.
Ein wesentliches Thema der Meditation über die Liebe ist deshalb zum einen, wie sie mit der Schuld und Schwäche anderer umgeht. Die Aussage ist vollkommen klar. Sie liegt ganz auf der Linie der Bergpredigt Jesu (Mt 5,38-48 par. Lk 6,27-36). Die Hauptaussage: Liebe bringt die Kraft zur Vergebung auf, die Kraft zu einem neuen Anfang. Sie geht den ersten Schritt zur Versöhnung. Sie bleibt auf der Seite des Friedens, auch wenn die Gesten guten Willens schnöde abgewiesen werden.
Zum anderen arbeitet die Liebe an der Selbstwahrnehmung, Selbstverständnis und an der Selbstdarstellung. Paulus geht davon aus, dass in den Menschen die Versuchung ganz tief ist, sich selbst auf Kosten anderer groß dazustehen zu lassen – und sei es dadurch, dass besonders "selbstlos" nur das Dienen großgeschrieben wird. Die Liebe ist das Organ, mit dem Menschen erkennen, dass sie "Ich" nur sagen können, wenn sie auch "Du" und "Wir" sagen, denken, fühlen können.
Beides gehört zusammen: Konfliktfähigkeit und Versöhnungsbereitschaft gibt es nicht ohne Ich-Stärke, Du-Anrede und Wir-Gefühl. Es ist gerade die Liebe, die diesen Zusammenhang stiftet.
Aber sie ist es nicht unter Menschen allein. Der Vier-Satz in Vers 7 spricht in beiden Außen-Verben von der Tragfähigkeit und der Ausdauer, der Widerstandskraft und Nachhaltigkeit der Liebe. Aber die beiden Innen-Verben richten den Blick auf Gott. Dass die Liebe immer an das Gute im Menschen glaubte und immer auf eine Wende zum Besseren hoffte, würde Paulus als Illusion kritisieren, die allzu häufig enttäuscht wird. Dass die Liebe alles glaubt und alles hofft, kann sich nur auf Gott beziehen. Die Liebe glaubt an Gott – bewusst oder nicht; sie setzt ihr ganzes Vertrauen und ihre ganze Hoffnung auf Gott – explizit oder implizit. Warum? Die Liebe, denkt Paulus, sieht im Nächsten das Geschöpf Gottes, den Bruder oder die Schwester Jesu. Die Liebe weiß, dass nur durch Gott allein "alles gut" sein und werden kann. Die Liebe ist realistisch: endgültiges Glück, vollkommenen Frieden, universale Versöhnung wird es auf Erden nicht geben; zu tief sind die Wunden der Vergangenheit,zu groß ist das Leid der Opfer, zu eng sind die Grenzen dessen, as Menschen bewirken und auch nur wünschen können. Die Liebe lebt von der Hoffnung auf das Reich Gottes, das Recht der Gerechtigkeit des Friedens und der Freude (Röm 14,17); sie liebt aus dem Glauben an Gott, den Schöpfer und Erlöser, dem Vater Jesu Christi. Wenn dieser Glaube und diese Hoffnung ausdrücklich werden –um so besser. Wenn sie unbewusst bleiben – dann gibt es immernoch die Liebe.
Freilich geht Paulus noch einen entscheidenden Schritt weiter. Langmut und Güte sind nach dem Alten Testament vorzügliche Eigenschaften Gottes. Das hat Paulus nicht vergessen noch verleugnet. Er setzt es voraus. Die Liebe, die er rühmt und preist, ist die Liebe Gottes selbst, die er in den Menschen weckt und wirkt. Im Römerbrief hat Paulus den Zusammenhang zwischen der Liebe Gottes zu uns und unserer Gottes- und Nächstenliebe präzis beschrieben: "Wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist" (Röm 5,3-5).
Es ist diese Liebe, die "bleibt" (13,8), auch wenn alles andere vergeht: nicht nur Besitz, Ansehen, Macht und Geld, sondern auch die höchsten intellektuellen und spirituellen Werte dieser Welt: selbst Prophetie und Erkenntnis. Die Liebe aber "bleibt", wie es ihre Art ist, nicht allein, sondern ist immer zusammen mit dem Glauben und der Hoffnung. Sie ist "am größten" nicht, weil Glaube und Hoffnung am Ende doch unwichtig wären, sondern in der Liebe, die Menschen erfahren und weitergeben, als Gottes- und als Nächstenliebe, am klarsten wird, wer Gott ist: der "Gott für uns" (Röm 8,31-39).